Rote Post #60

Posted: März 31st, 2023 | Author: | Filed under: Rote Post | Kommentare deaktiviert für Rote Post #60

 

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Bremen

Arzthelferin oder Mädchen für alles?

Wer sich für eine Ausbildung zum Medizinischen Fachangestellten oder kurz Arzthelfer entscheidet, hat vorher oft unrealistische Vorstellungen davon, wie es ist, als Angestellter in einer Arztpraxis zu arbeiten. Man malt sich aus, der Job würde zwar bestimmt recht anstrengend sein, aber man könnte damit „etwas Gutes tun“ und „den Menschen helfen“. Aber dass die Realität ganz anders aussieht, merkt man bereits nach kurzer Zeit in der Praxis – besonders als Auszubildender.

Eine Auszubildende in einer Kinderarztpraxis berichtete, dass das erste, was ihr auffiel war, was bestimmt auch jeder von uns kennt: man kommt als Patient zum Arzt, ist krank oder hat andere körperliche Beschwerden und hätte gerne die professionelle Einschätzung und den Rat eines Arztes. Aber was man dann bekommt – im schlimmsten Fall nach stundenlangem Warten im Wartezimmer, trotz Termin – sind maximal ein paar Minuten mit dem Arzt, der einen, wenn überhaupt, sehr oberflächlich untersucht, irgendeine Diagnose ausspricht und ein Medikament verschreibt. Und dann heißt es auch schon wieder: „Der Nächste bitte!“. So werden Patienten teilweise im Minutentakt abgefertigt und kaum einem ist dabei wirklich geholfen – außer der Praxiskasse. Denn dass sich kaum ein Arzt mehr richtig Zeit für seine Patienten nimmt, hat einen einfachen Grund: Es lohnt sich finanziell einfach nicht für ihn.

Der hauptsächliche Umsatz, den Arztpraxen machen, kommt aus den sogenannten Patientenpauschalen. Die Krankenkassen zahlen nämlich einen festen Betrag pro Patient im Quartal. Das bedeutet, wenn ein Patient einmal in drei Monaten zum Arzt geht und ein zehnminütiges Gespräch führt, macht die Praxis genauso viel Umsatz, wie wenn der selbe Patient im gleichen Zeitraum zehn mal kommt. Klar, dass der Arzt sich dann weniger Zeit für den einzelnen Patienten nimmt, wenn er in der gleichen Zeit ein Vielfaches mehr verdienen kann, indem er mit jedem nur soviel Zeit wie unbedingt nötig verbringt.

Die auszubildende Arzthelferin berichtete weiter, dass das Ganze in der Kinderarztpraxis, in der sie arbeitet, sogar so weit geht, dass die Kollegen, die am Empfang sitzen, vom Praxischef dazu angewiesen werden, neue Patienten, die am Telefon kein oder nur schlechtes Deutsch sprechen oder einen ausländischem Namen haben, möglichst wieder abzuwimmeln, weil die Sprachbarriere im Patientengespräch zu viel Zeit koste. Und Zeit ist ja bekanntlich Geld. Migranten wird also systematisch der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung erschwert, einfach nur deshalb, weil sie nicht profitabel genug sind. Und dass dieses Vorgehen kein Einzelfall ist, sieht man schnell, wenn man sich im Internet die ungeschönten Bewertungen der verschiedenen Praxen anschaut. Dort gibt es unzählige Berichte von Diskriminierung migrantischer Patienten, die davon erzählern, wie sie in den unterschiedlichen Praxen abgewiesen worden sind mit den Worten, sie sollten doch einfach Deutsch lernen, dann könne man sie auch vernünftig behandeln.

Die Erkenntnis der Angestellten, dass sie im Praxisalltag kaum die Erfüllung bekommen werden, die sie sich ausgemalt haben, kommt schnell. Unter dem ständigen Zeitdruck kann man einfach niemandem so richtig gerecht werden und bekommt in jedem Moment zu spüren, wie der Profit über die Menschen gestellt wird. Aber das ist nicht die einzige Ernüchterung, die man erfährt, wenn man voller Ideale und Tatendrang seine Ausbildung zum Arzthelfer antritt. Denn schnell bekommt man auch am eigenen Leibe zu spüren, dass die gesamten Abläufe in der Praxis nur von Geld bestimmt werden. Als Auszubildender genießt man eigentlich einen besonderen gesetzlichen Schutz, der Dinge wie Arbeitszeit und Vergütung genau regelt. Zum Beispiel ist es dem Arbeitgeber nicht gestattet, den Auszubildenden Überstunden machen zu lassen. Das gleiche gilt für Minusstunden. Wenn z.B. aufgrund von nicht genug anfallender Arbeit der Auszubildende nach Hause geschickt werden muss, muss diese Zeit trotzdem als normale Arbeitszeit vergütet werden.

Die Realität hat damit aber kaum etwas zu tun, berichtete uns die Auszubildende. Der Chef ordnet nämlich ständig unbezahlte Minusstunden an, damit er an anderer Stelle Überstunden verlangen kann, ohne dass dies durch schwankendes Einkommen der Azubis offensichtlich wird und er Probleme mit den Behörden bekommen könnte. So kann er sich die Arbeitszeit der Auszubildenden so einteilen, wie sie ihm am meisten Profit einbringt, auch wenn er damit völlig die Rechte seiner Angestellten übergeht.

Aber das ist noch nicht alles, denn nicht nur wird ein Dreck auf das Arbeitsrecht gegeben, sondern auch auf die Gesundheit der Patienten. Denn den Auszubildenden wird fast von Anfang an so viel zugemutet, als seien sie ausgelernte Kräfte, und damit Aufgaben und Verantwortungen übertragen, die ihre Kompetenz völlig überschreiten. Dass es dabei unvermeidlich früher oder später zu Fehlern kommt, die schwere gesundheitliche Folgen für einen Patienten haben können, nimmt der Chef einfach in Kauf, denn so spart er sich schließlich teure Fachkräfte. Der Druck, der dadurch auf den Auszubildenden lastet, sei unglaublich hoch, wird uns berichtet, man wird völlig überfordert, allein gelassen und als „Mädchen für alles“ benutzt. So z.B. auch als billige Putzkraft. Auch hierfür gibt es zwar gesetzliche Regelungen, die es den Betrieben verbieten, die Azubis zu ausbildungsfremden Tätigkeiten wie ständigem Putzen abzustellen, doch daran hält sich niemand. Es sei in einigen Praxen sogar schon so weit, dass eine professionelle Reinigungskraft nur alle paar Tage vorbei kommt und die Azubis den Rest der Putzarbeit irgendwie nebenher erledigen müssen, wird uns berichtet. Und das in einer Arztpraxis, die eigentlich ständig steril sein müsste und nicht nur nebenbei mal durchgefegt, als sei es ein Friseursalon.

Doch es bleibt nicht bei dieser einen Tätigkeit auf der Tagesordnung, die nichts mit dem Erlernen des Berufs des Arzthelfers zu tun hat. Denn eine Sache, die der Chef in der Praxis unserer Berichterstatterin täglich wie selbstverständlich von den Auszubildenden verlangt, ist, seinen eigenen privaten Terminkalender zu managen. Private Termine machen, absagen, Telefonate führen, teilweise sogar für andere Familienmitglieder des Arztes, kleine Botengänge erledigen, das alles lässt der Chef von seinen Azubis erledigen, einfach, weil er es kann. Weil er ganz genau weiß, dass er seine Machtposition schamlos ausnutzen kann, solange seine Untergebenen das alles über sich ergehen lassen. „Aber das kann doch so nicht weitergehen!“ sagt unsere auszubildende Arzthelferin. „Wir müssen uns unter den Kollegen zusammentun, wenn wir etwas dagegen unternehmen wollen! Der Chef glaubt, er kann alles mit uns machen, aber ich will da nicht länger mitmachen! Ich glaube, wir können die Dinge nicht ändern, wenn wir versuchen alleine zu kämpfen, denn dann bleiben wir immer schwach und machtlos in unserer Position als Arbeiter. Wir müssen uns zusammentun!“

 


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