Rote Post #47

Posted: Februar 6th, 2022 | Author: | Filed under: Rote Post | Kommentare deaktiviert für Rote Post #47

 

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HAMBURG

Kinderärzteknappheit in den Arbeitervierteln Hamburgs

Tut uns leid, wir nehmen nur noch Neugeborene auf“ lautet der Satz schon seit Jahren, wenn man in Hamburg einen neuen Kinderarzt sucht. In diesem Jahr allerdings werden selbst die Neugeborenen abgewiesen: „Tut uns leid, wir haben Aufnahmestopp. Wir kommen mit unseren eigenen Patienten kaum hinterher…“

Einige Mütter berichten, dass sie noch vor der Geburt ihrer Kinder im Jahr 2021 im Arbeiterviertel Billstedt mit einer Kinderarztpraxis klar gemacht hatten, dass ihre Säuglinge einen Platz bekämen, doch nach der Geburt habe die Praxis einfach niemanden mehr aufgenommen. Leider auch so in allen umliegenden Praxen. Die Eltern müssen jetzt teilweise in ein anderes Bundesland fahren, um ihre Kinder aus Billstedt behandeln zu lassen. Zudem musste im Sommer eine Kinderarztpraxis im Nachbarviertel Horn schließen, da der Kinderarzt auf dem Weg zur Arbeit verunglückt war. Die meisten Patienten haben keinen Anruf von den Sprechstundenhilfen bekommen und standen bei Terminen vor einer verschlossenen Tür, an der Mitleidsbekundungen in Form von Kinderbildern ehemaliger Patienten und Patientinnen hingen. Auch dieser Kinderarzt betreute etliche Familien aus Billstedt. Im Bereich Hamburg-Mitte, zu dem auch Billstedt gehört, leben ungefähr 49.000 Kinder. Gibt man „Kinderarzt in Hamburg“ auf hamburg.de ein, erhält man 208 Treffer, wobei in dieser Zahl auch Kinderfachärzte wie Kinderchirurgen, Kinderherzspezialisten und die einzelnen verschiedenen Abteilungen der Kinderkrankenhäuser eingerechnet sind, die nicht unbedingt regulär als allgemeinbehandelnder Kinderarzt fungieren. Schaut man sich die genannten Praxen also genau an, sind nur 133 Ärzte tatsächlich Kinderärzte außerhalb von Kinderkrankenhäusern und Fachrichtungen. Im Jahr 2020 waren in ganz Hamburg 316.485 Kinder gemeldet. Also sieht die Rechnung erschreckend aus: Jeder dieser 133 Ärzte müsste 2380 Kinder betreuen, damit alle Praxen gleich gut ausgelastet sind.

Billstedt aber ist ein kinderreicher Stadtteil. Hier sind gerade mal zwei Kinderarztpraxen ansässig. In Billstedt hat das Statistische Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein im Jahre 2020 genau 7.800 Haushalte mit Kindern gezählt. Da es hier selten Familien mit Einzelkindern gibt, handelt es sich um weit mehr als 8.000 Kinder, die auf zwei behandelnde Arztpraxen aufgeteilt werden müssen, das „ProCura Familienmedizinische Zentrum“ und das „Medizinische Versorgungszentrum Mümmelmannsberg“. Nur der Stadtteil Rahlstedt zählt mit 9.750 Haushalten mehr Haushalte mit Kindern. Hier gibt es allerdings neun verzeichnete Kinderärzte und das große Kinderkrankenhaus Wilhelmstift. Ähnlich schlimm wie in Billstedt ist die Situation in Wilhelmsburg. Auch dieser Stadtteil zählt zu Hamburg-Mitte, zählt 5.109 Haushalte mit Kindern und ist mit nur vier Kinderärzten ausgestattet.

Was bleibt den Eltern übrig, die nun keinen Platz für ihr Kind haben, weil sie neu in einen Stadtteil gezogen sind, oder einen Säugling bekommen haben? Entweder haben die Eltern Glück und verfügen über Wege und Mittel, einen Arzt in einem weiter entfernten Stadtteil aufzusuchen, sie schauen sich im benachbarten Schleswig-Holstein oder Niedersachsen um und gelangen dort zu einem Kinderarzt (diese nehmen in den meisten Fällen auch nur noch Säuglinge auf), oder sie gehen für eine Behandlung ihres Kindes in die Notaufnahme eines der Kinderkrankenhäuser in Hamburg. Oft werden diese auch als Anlaufstelle angepriesen, wenn der behandelnde Kinderarzt im Urlaub ist, da kein Kollege die Vertretung für eine geschlossene Praxis übernehmen kann. Schon 2012 heißt es aus einem Artikel im Hamburger Abendblatt (Hamburger Abendblatt, „Kinderärzte-Mangel führt zu Tortur für Neunjährige“), dass Kinderärzte sich nicht mit dem Arbeiten in einer eigenen Praxis ins Burnout stürzen wollten, sondern lieber im Krankenhaus arbeiteten, da man dort täglich nicht so viele Kinder betreuen müsse, wie in einer eigenen Praxis.

Die für die medizinische Versorgung durch niedergelassen Ärzte zuständige Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Hamburg schafft es nicht mehr, Plätze für Kinderarztpraxen zu schaffen. Das Hamburger Abendblatt hat schon vor zehn Jahren kritisiert, dass die Berechnungen der KV für die Erlaubnis einer Praxisöffnung auf Neugeborenendaten basieren, die 20 Jahre alt seien. Aber die Geburtenrate und ihre Tendenz steigt. Das heißt, es gibt neue und viel mehr behandlungsbedürftige Kinder unter 18 Jahren, und eine Vereinigung, die die Praxisplätze in Deutschland bestimmt, setzt hier auf eine Fehlplanung. Dabei ist es die Hauptaufgabe der KV, für eine flächendeckende ambulante ärztliche Versorgung in Deutschland zu sorgen. Jeder niedergelassene Arzt in einer Praxis oder dem Krankenhaus, der mit Kassenpatienten abrechnen will, muss der KV angehören. Es ist absurd, dass die KV nicht viel mehr Kinderarztpraxen in Hamburg zulässt. Privatpatienten oder Selbstzahler haben hier einen Vorteil, denn sie können sich auch an Privatpraxen richten. Von denen gibt es nämlich auch welche. Das bedeutet, dass auch beim Thema der medizinischen Versorgung für Kinder in diesem Land die Wohlhabenden klar im Vorteil sind. Aber auch, dass die Ärzte durch die Beschränkung der KV dazu getrieben werden, ihre Praxen als Privatpraxen zu gestalten und exklusiv für Bonzen und Beamten zu öffnen. Denn nur die können es sich leisten, Privatärzte in Anspruch zu nehmen.

Wie sollen Erziehungsberechtigte mit der Situation umgehen, wenn ihr Kind – eines der 316.485 Kinder in Hamburg – Schmerzen empfindet, weint und leidet und der nächste Arzt eine Stunde entfernt ist und man womöglich nur mit überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihm gelangt? Was mutet der Staat den Kindern in den Arbeitervierteln zu, die mit Kinderärzten unterversorgt sind? Die Gesundheit der Arbeiterklasse wird von politischen Entscheidungen exkludiert. Wir leben in einem herzlosen, anti-Arbeiter System, das im Grunde genommen keiner braucht. Niemand, der ein Kind hat, mit dem er eine Stunde in öffentlichen Verkehrsmitteln ins Kinderkrankenhaus in die Notaufnahme fahren muss, will die Revolution nicht. Wir brauchen ein System, in dem garantiert ist, dass alle Kinder medizinisch gut versorgt sind! Ohne Ausnahme! Die BRD zermürbt die Massen der Arbeiter, sie macht die Eltern und Kinder kaputt, die sowieso schon ausgebeutet werden und gebeutelt sind. Wir müssen uns ein System erkämpfen, in dem es selbstverständlich ist, dass überall medizinische Versorgung und Betreuung für Kinder, Erwachsene und alte Menschen vorhanden ist.


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