Rote Post #9

Posted: Oktober 1st, 2018 | Author: | Filed under: Rote Post | Kommentare deaktiviert für Rote Post #9


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THÜRINGEN

Wir haben (k)eine Chance

Es ist Montagmorgen in Weimar-West, einer unseren großen Plattenbausiedlungen am Rande der Stadt. Während ein paar Kinder von ihren Eltern mit dem Auto zum hiesigen Gymnasium gebracht werden, im Gepäck das Musikinstrument für den nachmittäglichen Unterricht oder die Sporttasche für das Leichtathletiktraining am Abend, werden andere Kinder in einem kleinen Zimmer wach; mit dem tristen Blick aus dem Fenster: Auf Platten, kaputte Spielplätze und dem Wissen, dass der Tag nicht ganz so rosig werden wird, wie bei den meisten Gymnasiasten, die da am Fenster vorbeimarschieren. Mutti hat es eilig, nachdem sie aus einigen Jobs geflogen ist. Weil die Kinder zu oft krank waren, muss sie nun in eine Maßnahme vom Jobcenter. Zu spät kommen könnte für das Familieneinkommen üble Folgen haben. Papa ist schon in der Frühschicht, Mindestlohn. Das Geld ist knapp, die Wohnung ist klein, der Druck ist groß – Werden wir diesen Monat über die Runden kommen?

Die „Bundeszentrale für politische Bildung“ ist zumindest so: „Vor dem Gesetz, so fordert es unser Grundgesetz, sind alle Bürger und Bürgerinnen gleich. Im Grundgesetz heißt es: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“ Und weiter: „Für alle die gleichen Chancen. Alle Bürger sollen vielmehr die gleichen Chancen bekommen, möglichst viel aus ihrem Leben zu machen. Kinder und Jugendliche sollen deshalb in der Schule und der Ausbildung die gleichen Bildungsmöglichkeiten erhalten, um später einen Beruf zu finden. Sie sollen so gefördert werden, wie sie es von ihren persönlichen Voraussetzungen her benötigen. Durch die Chancengleichheit will man auch auszugleichen, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die durch die schlechte Einkommenssituation ihrer Eltern im Nachteil sind.“

Soweit also die Theorie. Schauen wir mal in die Praxis und zurück nach Weimar-West, wo zwischen alten verranzten Platten ein modern saniertes, großzügig angelegtes Gymnasium thront: Die wenigsten der 5.-12. Klässler haben einen Hauptwohnsitz hier im Viertel. Das Gymnasium ringt ohnehin um seine Schüler, denn für einige Eltern ist die Lage hier im „sozialen Brennpunkt“ zu heikel. Deshalb muss die Schule mit besonderen Anreizen werben: Ob der französisch-bilinguale Zweig, das Projekt „Athletik Plus“ zur Förderung von jungen Sportassen oder diverse soziale und kulturelle Programmpunkte. Seit diesem Jahr ist das Gymnasium zudem eine „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“, als einzige Schule in Weimar. Mindestens 70% der Schüler- und Lehrerschaft mussten dafür unterschreiben, dass sie aktiv gegen jede Form von Diskriminierung, Mobbing und vor allem Rassismus eintreten. Und da wird öffentlichkeitswirksam demonstriert, da werden Zeitungen geschrieben und diskutiert, warum Rassismus schlecht und warum man blöd ist, wenn man Rassist ist. Man gibt sich weltoffen, demokratisch und gebildet. Gegen jede Form von Diskriminierung? Versteht sich eigentlich von selbst. Doch wie reagieren die Schüler auf das Umfeld der Armut, was da hinterm Schulzaun lauert? Wenn man sich in der Schülerschaft mal umhört oder in die Kinder- und Jugendclubs in West geht und die Mitarbeiter fragt, dann lernt man schnell: Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Es besteht kaum Kontakt zwischen den Kindern in der Schule und den Kindern vor dem Schulzaun. Im Jugendclub von West erfährt man, dass sogar bei größeren Workshops oder Tanzprojekten sehr selten ein Schüler vom Gymnasium teilnimmt. Die gehen lieber mit ihren Schulfreunden zu den teuren Tanzkursen in cooleren Locations in der Innenstadt. Eine Schülerin sagte: „Mit denen haben wir nix zu tun, wir nennen die hier nur die Kloppis. Guck mal, wie die schon rumrennen!“ Ein anderer „toleranter“ und „gebildeterer“ Schüler erklärt, dass die Eltern alle
selbst Schuld seien, hier in der Platte zu hausen. Sie seien eben faul, zu blöd oder beides. Hätten sich eben nie richtig Mühe gegeben und deren Kinder würden dann eben genauso werden. Selbst schuld und faul und auch noch zu blöd ist also die Ursache dafür, dass Kinder und Familien am Existenzminimum leben und Ihnen der Weg zu Bildung, Sport und Freizeitbeschäftigungen erschwert wird?

Zum Thema Kinderarmut sagt die Bertelsmann Stiftung: „Trotz guter Wirtschaftslage wuchsen 2015 bundesweit 14,7 Prozent der Kinder unter 18 Jahren in Familien auf, die Hartz IV beziehen. Im Vergleich zu 2011 ist das ein Anstieg um 0,4 Prozent.“ Daraus folgt laut Bertelsmann Stiftung soziale Isolierung und auch gesundheitliche Beeinträchtigung. Wir werfen mal einen Blick auf die Zahlen. Der monatliche Regelsatz HartzIV in der BRD für Kinder von 0-5 Jahren beträgt dieses Jahr 240€. Für 6-unter 14-Jährige 296€ und für 14 bis unter 18-Jährige 316€. In Weimar speziell lebten 17,9 % der Kinder unter 18 Jahren im SGB II Bezug, also von HartzIV. Das sind 1.786 Kinder in Weimar. Von diesem bisschen Geld soll man sich gesundes Essen, Klamotten, Schulbücher, den Sportverein, den Musikunterricht am Nachmittag oder Ausflüge mit der Klasse leisten können. Kurz gesagt: Mit dem bisschen Geld hat man also die Chance, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben? – Leben Kinder in einer Familie, die Leistungen nach dem SGB II bezieht, haben die Eltern die Möglichkeit, Leistungen nach dem „Bildungs- und Teilhabe-Paket“ zu beantragen. Dort kann man Zuschüsse zum Mittagessen in der Kita oder Schule bekommen oder finanzielle Unterstützung zum Schulbedarf, zur Lernförderung, für Schulausflüge oder für Nachhilfeunterricht. In der Praxis stellt sogar Thüringens Sozialministerin Heike Werner fest: „Das Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes kommt noch immer nicht bei vielen Betroffenen an. Das Teilhabe- und Bildungspaket ist zu bürokratisch, nicht ausreichend und nicht wirkungsvoll genug.“ Wenn Familien im HartzIV-Bezug leben oder „Aufstocker“ sind, bedeutet das nämlich in der Praxis, dass alles mühsam beantragt werden muss und mit Bestätigungen durch Lehrer, Vereine oder Sonstigem belegt werden muss. Vielleicht will man die Kinder nicht der Gefahr aussetzen, dass man ihnen vorwirft – als wäre es ein Verbrechen arm zu sein – faule oder blöde Eltern zu haben, die sich nicht einmal den Sportverein l
eisten können. In der Praxis führt das nicht selten zu sozialer Ausgrenzung.

Wer aus einer Arbeiterfamilie kommt, vielleicht noch einen Migrationshintergrund mitbringt und nicht auf das akademische Bildungserbe seiner Eltern und Großeltern zurückgreifen kann, hat ungleich schlechtere Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss. Die finanziellen Mittel und die Klassenzugehörigkeit sind der entscheidende Faktor, welche Chancen ein Kind in der BRD hat. Wenn es aber am Geld für Ausflüge, kulturelle Veranstaltungen, Sport oder Musikunterricht mangelt, sind Kinder in ihrem Erfahrungshorizont gegenüber denen eingeschränkt, deren Familien solche Dinge mühelos finanzieren können. Hinzu kommt, dass das Fehlen außerschulischer Lernmöglichkeiten ihr Bildungsniveau erheblich einschränken kann. Und auch die Wohnsituation und viele andere Faktoren können den Schulerfolg negativ beeinflussen. Wie bei den Eltern leidet darunter auch die Psyche: Angst, Druck, das Gefühl des Ausgeschlossenseins, Wut und Verzweiflung machen sich breit.

Vergessen hierbei dürfen wir auch nicht all jene Kinder, die gänzlich herausfallen aus dem System HartzIV. Deren Eltern Opfer von ungerechtfertigten Sanktionen geworden sind, weil sie einen Termin versäumten, weil sie vielleicht gar nicht verstehen, was in den zahllosen Anträgen gefordert wird oder weil sie schlicht und einfach aufgegeben haben in diesem Schweinesystem noch einen Platz zu finden. Das sind die Kinder, die aus der Kita geschmissen werden, weil die Eltern die Kita-Gebühren oder das Mittagessen nicht bezahlen konnten. Sie wachsen auf in einem Umfeld von Hoffnungslosigkeit und Armut. Dann wird sich empört, wenn wieder einmal in der Lokalzeitung zu lesen ist, dass eine völlig überforderte Mutter ihr Kind auf der Straße verprügelt hat. Dann werden Schuldige gesucht und am Ende sind es doch angeblich immer die Eltern.

Aber die Ursache liegt tiefer, als bei den angeblich bösen Eltern. Schuld an dieser Misere, an diesem ganzen Elend, ist eben dieses imperialistische System, in dem wir alle leben. Ein System, das immerfort Arm und Reich produziert. Ein System, das Familien reihenweise in die Armut stürzt, während die Bonzen ungehindert – auf Kosten der Unterdrückten – ihren privaten Reichtum vermehren. Diese Probleme beseitigt man nur gemeinsam und organisiert mit der Abschaffung der herrschenden Verhältnisse! Mit der Beseitigung des Imperialismus der uns und unseren Kindern so viele Schranken in den Weg stellt und Chancen nimmt!


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