Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen.

Posted: September 1st, 2017 | Author: | Filed under: Klassenstandpunkt | Kommentare deaktiviert für Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen.

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen.

Zusammengestellt durch die Reaktion des Klassenstandpunkt.

 

Auszug aus: Karl Marx:
„Das Kapital
Vorwort zur ersten Auflage“
25. Juli 1867

„Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen.”

 

 

Auszug aus Mao Tse-Tung:
„Über den Widerspruch“
August 1937

Unsere Dogmatiker sind faule Kerle, die jede mühselige Forschungsarbeit an konkreten Dingen ablehnen; sie betrachten die allgemeinen Wahrheiten als etwas vom Himmel Gefallenes, verwandeln sie in unfaßbare, rein abstrakte Formeln, negieren total die normale Reihenfolge der Erkenntnis der Wahrheit durch den Menschen und stellen sie auf den Kopf. Ebensowenig verstehen sie die wechselseitige Verbundenheit zwischen den beiden Prozessen der menschlichen Erkenntnis: vom Besonderen zum Allgemeinen und vom Allgemeinen zum Besonderen. Sie verstehen überhaupt nicht die marxistische Erkenntnistheorie.

 

 

Auszug aus: Karl Marx:
„Das Kapital
Nachwort zur zweiten Auflage“
24. Januar 1873

Die im „Kapital“ angewandte Methode ist wenig verstanden worden, wie schon die einander widersprechenden Auffassungen derselben beweisen.

So wirft mir die Pariser „Revue Positiviste“1 vor, einerseits, ich behandle die Ökonomie metaphysisch, andrerseits – man rate! –, ich beschränke mich auf bloß kritische Zergliederung des Gegebnen, statt Rezepte (comtistische?) für die Garküche der Zukunft zu verschreiben. Gegen den Vorwurf der Metaphysik bemerkt Prof. Sieber:

„Soweit es sich um die eigentliche Theorie handelt, ist die Methode von Marx die deduktive Methode der ganzen englischen Schule, deren Mängel und Vorzüge den besten theoretischen Ökonomisten gemein sind.“

Herr M, Block – „Les Théoriciens du Socialisme en Allemagne. Extrait du Journal des Économistes, juillet et août 1872“ – entdeckt, daß meine Methode analytisch ist, und sagt u.a.:

 „Par cet ouvrage M. Marx se classe parmi les esprits analytiques les plus éminents.2

Die deutschen Rezensenten schreien natürlich über Hegelsche Sophistik. Der Petersburger „Вестник Европы“ (Europäischer Bote), in einem Artikel, der ausschließlich die Methode des „Kapital“ behandelt (Mainummer 1872, p. 427-436), findet meine Forschungsmethode streng realistisch, die Darstellungsmethode aber unglücklicherweise deutsch-dialektisch. Er sagt:

„Auf den ersten Blick, wenn man nach der äußern Form der Darstellung urteilt, ist Marx der größte Idealphilosoph, und zwar im deutschen, d.h. schlechten Sinn des Wortes. In der Tat aber ist er unendlich mehr Realist als alle seine Vorgänger im Geschäft der ökonomischen Kritik … Man kann ihn in keiner Weise einen Idealisten nennen.“

Ich kann dem Herrn Verfasser3 nicht besser antworten als durch einige Auszüge aus seiner eignen Kritik, die zudem manchen meiner Leser, dem das russische Original unzugänglich ist, interessieren mögen.

Nach einem Zitat aus meiner Vorrede zur „Kritik der Pol. Oek.“, Berlin 1859, p. IV-VII, wo ich die materialistische Grundlage meiner Methode erörtert habe, fährt der Herr Verfasser fort:

„Für Marx ist nur eins wichtig: das Gesetz der Phänomene zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäftigt. Und ihm ist nicht nur das Gesetz wichtig, das sie beherrscht, soweit sie eine fertige Form haben und in einem Zusammenhang stehn, wie er in einer gegebnen Zeitperiode beobachtet wird. Für ihn ist noch vor allem wichtig das Gesetz ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d.h. der Übergang aus einer Form in die andre, aus einer Ordnung des Zusammenhangs in eine andre. Sobald er einmal dies Gesetz entdeckt hat, untersucht er im Detail die Folgen, worin es sieh im gesellschaftlichen Leben kundgibt… Demzufolge bemüht sich Marx nur um eins: durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Notwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen und soviel als möglich untadelhaft die Tatsachen zu konstatieren, die ihm zu Ausgangs- und Stützpunkten dienen. Hierzu ist vollständig hinreichend, wenn er mit der Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Notwendigkeit einer andren Ordnung nachweist, worin die erste unvermeidlich übergehn muß, ganz gleichgültig, ob die Menschen das glauben oder nicht glauben, ob sie sich dessen bewußt oder nicht bewußt sind. Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen… Wenn das bewußte Element in der Kulturgeschichte eine so untergeordnete Rolle spielt, dann versteht es sich von selbst, daß die Kritik, deren Gegenstand die Kultur selbst ist, weniger als irgend etwas andres, irgendeine Form oder irgendein Resultat des Bewußtseins zur Grundlage haben kann. Das heißt, nicht die Idee, sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr als Ausgangspunkt dienen. Die Kritik wird sich beschränken auf die Vergleichung und Konfrontierung einer Tatsache, nicht mit der Idee, sondern mit der andren Tatsache. Für sie ist es nur wichtig, daß beide Tatsachen möglichst genau untersucht werden und wirklich die eine gegenüber der andren verschiedne Entwicklungsmomente bilden, vor allem aber wichtig, daß nicht minder genau die Serie der Ordnungen erforscht wird, die Aufeinanderfolge und Verbindung, worin die Entwicklungsstufen erscheinen. Aber, wird man sagen, die allgemeinen Gesetze des ökonomischen Lebens sind ein und dieselben; ganz gleichgültig, ob man sie auf Gegenwart oder Vergangenheit anwendet. Grade das leugnet Marx. Nach ihm existieren solche abstrakte Gesetze nicht… Nach seiner Meinung besitzt im Gegenteil jede historische Periode ihre eignen Gesetze… Sobald das Leben eine gegebene Entwicklungsperiode überlebt hat, aus einem gegebnen Stadium in ein andres übertritt, beginnt es auch durch andre Gesetze gelenkt zu werden. Mit einem Wort, das ökonomische Leben bietet uns eine der Entwicklungsgeschichte auf andren Gebieten der Biologie analoge Erscheinung… Die alten Ökonomen verkannten die Natur ökonomischer Gesetze, als sie dieselben mit den Gesetzen der Physik und Chemie verglichen … Eine tiefere Analyse der Erscheinungen bewies, daß soziale Organismen sich voneinander ebenso gründlich unterscheiden als Pflanzen- und Tierorganismen… ja, eine und dieselbe Erscheinung unterliegt ganz und gar verschiednen Gesetzen infolge des verschiednen Gesamtbaus jener Organismen, der Abweichung ihrer einzelnen Organe, des Unterschieds der Bedingungen, worin sie funktionieren usw. Marx leugnet z.B., daß das Bevölkerungsgesetz dasselbe ist zu allen Zeiten und an allen Orten. Er versichert im Gegenteil, daß jede Entwicklungsstufe ihr eignes Bevölkerungsgesetz hat… Mit der verschiednen Entwicklung der Produktivkraft ändern sich die Verhältnisse und die sie regelnden Gesetze. Indem sich Marx das Ziel stellt, von diesem Gesichtspunkt aus die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu erforschen und zu erklären, formuliert er nur streng wissenschaftlich das Ziel, welches jede genaue Untersuchung des ökonomischen Lebens haben muß… Der wissenschaftliche Wert solcher Forschung liegt in der Aufklärung der besondren Gesetze, welche Entstehung, Existenz, Entwicklung, Tod eines gegebenen gesellschaftlichen Organismus und seinen Ersatz durch einen andren, höheren regeln. Und diesen Wert hat in der Tat das Buch von Marx.“

Indem der Herr Verfasser das, was er meine wirkliche Methode nennt, so treffend und, soweit meine persönliche Anwendung derselben in Betracht kommt, so wohlwollend schildert, was andres hat er geschildert als die dialektische Methode?

Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.

Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.

Die mystifizierende Seite der Hegelschen Dialektik habe ich vor beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war. Aber grade als ich den ersten Band des „Kapital“ ausarbeitete, gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige Epigonentum4, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort führt, darin, Hegel zu behandeln, wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat, nämlich als „toten Hund“. Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers und kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.

In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel» weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.

Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt – die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken.

 

 

Auszüge aus: Wladimir Iljitsch Lenin
„Materialismus und Empiriokritizismus“

Mai 1909

Kapitel II. Die Erkenntnistheorie des Empiriokritizismus und des dialektischen Materialismus.
6. Das Kriterium der Praxis in der Erkenntnistheorie

Wir haben gesehen, daß Marx 1845, Engels 1888 und 1892 das Kriterium der Praxis in die Grundlage der materialistischen Erkenntnistheorie einführen.5 Von der Praxis isoliert die Frage stellen, „ob dem menschlichen Denken gegenständliche“ (d. h. objektive) „Wahrheit zukomme“, ist Scholastik, sagt Marx in der zweiten These über Feuerbach. Die schlagendste Widerlegung des Kantschen und Humeschen Agnostizismus wie aller andern philosophischen Schrullen ist die Praxis, wiederholt Engels. „Die Erfolge unsrer Handlungen liefern den Beweis für die Übereinstimmung unsrer Wahrnehmungen mit der gegenständlichen“ (objektiven) „Natur der wahrgenommenen Dinge“, erwidert Engels den Agnostikern.6

Man vergleiche damit die Betrachtung Machs über das Kriterium der Praxis: „Man pflegt in der populären Denk- und Redeweise der Wirklichkeit den Schein gegenüberzustellen. Einen Bleistift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade; tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt. Man sagt nun in letzterem Falle: ,Der Bleistift scheint geknickt, ist aber in Wirklichkeit gerade.‘ Was berechtigt uns aber, eine Tatsache der andern gegenüber für Wirklichkeit zu erklären und die andere zum Schein herabzudrücken? . . . Unsere Erwartung wird allerdings getäuscht, wenn wir den natürlichen Fehler begehen, in ungewöhnlichen Fällen dennoch das Gewöhnliche zu erwarten. Die Tatsachen sind daran, unschuldig. Es hat nur einen praktischen, aber keinen wissenschaftlichen Sinn, in diesen Fällen von Schein zu sprechen. Ebenso hat die oft gestellte Frage, ob die Welt wirklich ist oder ob wir sie bloß träumen, gar keinen wissenschaftlichen Sinn. Auch der wüsteste Traum ist eine Tatsache, so gut als jede andere.“ („Analyse der Empfindungen“, S. 18/19 [S. 8/9].)

Es ist wahr: nicht nur ein wüster Traum, sondern auch eine wüste Philosophie ist mitunter eine Tatsache. Daran ist kein Zweifel möglich, nachdem man die Philosophie Ernst Machs kennengelernt hat. Wie der allerletzte Sophist vermengt er die wissenschaftlich-historische und die psychologische Untersuchung der menschlichen Irrtümer, aller möglichen „wüsten Träume“ der Menschheit, wie des Glaubens an Waldteufel, Hausgeister u. dgl. m., mit der erkenntnistheoretischen Unterscheidung des Wahren und des „Wüsten“. Das ist dasselbe, wie wenn ein Ökonom erklärte, daß die Theorie von Senior, nach der der ganze Gewinn dem Kapitalisten aus der „letzten Arbeitsstunde“ des Arbeiters zufließt, ebenso eine Tatsache sei wie die Theorie von Marx und daß vom wissenschaftlichen Standpunkt aus die Frage, welche Theorie die objektive Wahrheit und welche die Vorurteile der Bourgeoisie und die Käuflichkeit ihrer Professoren ausdrücke, gar keinen Sinn habe. Der Lohgerber J. Dietzgen sah in der wissenschaftlichen, d. h. materialistischen Erkenntnistheorie eine „Universalwaffe wider den religiösen Glauben“ („Kleinere philosophische Schriften“, S. 55), für den ordentlichen Professor Ernst Mach aber hat die Unterscheidung zwischen der materialistischen und der subjektiv-idealistischen Erkenntnistheorie „keinen wissenschaftlichen Sinn“! Die Wissenschaft sei im Kampfe des Materialismus gegen Idealismus und Religion unparteiisch – das ist eine Lieblingsidee nicht nur Machs, sondern aller modernen bürgerlichen Professoren, dieser, um den treffenden Ausdruck desselben J. Dietzgen zu gebrauchen, „diplomierten Lakaien, die mit einem geschraubten Idealismus Volksbetörung treiben“ (ebenda, S. 53).

 Es ist eben ein solcher geschraubter Professoren-Idealismus, wenn das Kriterium der Praxis, die für jedermann den Schein von der Wirklichkeit sondert, von E. Mach hinter die Grenzen der Wissenschaft, hinter die Grenzen der Erkenntnistheorie verlegt wird. Die menschliche Praxis beweist die Richtigkeit der materialistischen Erkenntnistheorie, erklärten Marx und Engels, und sie bezeichneten die Versuche, die Grundfrage der Erkenntnistheorie isoliert von der Praxis zu lösen, als „Scholastik“ und „philosophische Schrullen“. Für Mach hingegen sind Praxis und Erkenntnistheorie zwei ganz verschiedene Dinge: man könne sie nebeneinanderstellen, ohne daß die letztere durch die erste bedingt sei. In seinem letzten Werk „Erkenntnis und Irrtum“ (S. 115 der zweiten deutschen Auflage) sagt Mach: „Eine Erkenntnis ist stets ein biologisch forderndes psychisches Erlebnis.“ „Nur der Erfolg vermag beide“ (Erkenntnis und Irrtum) „zu scheiden.“ (116.) „Der Begriff ist eine physikalische Arbeitshypothese.“ (143.) Unsere russischen Machisten, die Marxisten sein möchten, nehmen solche Phrasen von Mach mit erstaunlicher Naivität hin als Beweis dafür, daß er sich dem Marxismus nähere. Aber Mach nähert sich hier dem Marxismus ebenso, wie sich Bismarck der Arbeiterbewegung oder der Bischof Jewlogi dem Demokratismus genähert hat. Bei Mach stehen solche Sätze neben seiner idealistischen Erkenntnistheorie, aber sie bedeuten keine Entscheidung für diese oder jene bestimmte Linie in der Erkenntnistheorie. Die Erkenntnis kann nur dann biologisch fördernd, fördernd für die menschliche Praxis, für die Erhaltung des Lebens, für die Erhaltung der Gattung sein, wenn sie eine objektive, vom Menschen unabhängige Wahrheit widerspiegelt. Für den Materialisten beweist der „Erfolg“ der menschlichen Praxis die Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit der objektiven Natur der von uns wahrgenommenen Dinge. Für den Solipsisten ist „Erfolg“ all das, was ich in der Praxis, die man getrennt von der Erkenntnistheorie betrachten kann, brauche. Schließen wir das Kriterium der Praxis in die Grundlage der Erkenntnistheorie ein, so kommen wir unvermeidlich zum Materialismus, sagt der Marxist. Mag die Praxis meinetwegen materialistisch sein, die Theorie jedoch ist eine Sache für sich, meint Mach.

„Praktisch“, schreibt er in der „Analyse der Empfindungen“, „können wir nun handelnd die Ichvorstellung so wenig entbehren als die Körpervorstellung, nach einem Ding greifend. Physiologisch bleiben wir Egoisten und Materialisten, so wie wir die Sonne immer wieder aufgehn sehen. Theoretisch muß aber diese Auffassung nicht festgehalten werden.“ (284/285 [291].)
Mit Egoismus hat das überhaupt nichts zu tun, denn er ist gar keine erkenntnistheoretische Kategorie. Ebensowenig auch mit der scheinbaren Bewegung der Sonne um die Erde, denn die uns in der Erkenntnistheorie als Kriterium dienende Praxis muß auch die Praxis der astronomischen Beobachtungen, Entdeckungen usw. umfassen. Es bleibt das wertvolle Eingeständnis Machs, daß die Menschen sich in ihrer Praxis gänzlich und ausschließlich von der materialistischen Erkenntnistheorie leiten lassen, der Versuch aber, sie „theoretisch“ zu umgehen, drückt nur die gelahrt-scholastischen und geschraubt-idealistischen Bestrebungen Machs aus.

Wie wenig neu diese Bemühungen sind, die Praxis als nicht zur Erkenntnistheorie gehörend auszusondern, um dem Agnostizismus und dem Idealismus Platz zu machen, zeigt das folgende Beispiel aus der Geschichte der deutschen klassischen Philosophie. Auf dem Wege von Kant zu Fichte steht hier G. E. Schulze (der in der Geschichte der Philosophie sogenannte Aenesidem-Schulze). Er verteidigt offen die skeptische Linie in der Philosophie und bezeichnet sich als Anhänger von Hume (und unter den Alten von Pyrrhon und Sextus). Er leugnet auf das entschiedenste jedes Ding an sich und die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis und verlangt entschieden, daß man über die „Erfahrung“, über die Empfindungen nicht hinausgehe, wobei er auch den Einwand aus dem anderen Lager voraussieht: „Da der Skeptiker, wenn er an den Angelegenheiten des Lebens Anteil nimmt, sowohl die Wirklichkeit objektiver Gegenstände als gewiß voraussetzt und denselben gemäß sich beträgt, als auch ein Kriterium der Wahrheit zugibt: so ist sein eigenes Betragen die beste und deutlichste Widerlegung der Vernunftmäßigkeit seiner Zweifelsucht.“7 Entrüstet antwortet Schulze: „Durch dieselben“ (Vorwürfe) „kann man freilich bei dem Pöbel (S. 254) sehr viel ausrichten.“ Denn „meine Zweifel müssen innerhalb der Grenzen der Philosophie bleiben“ und berühren nicht die „Angelegenheiten des täglichen Lebens“ (255).

Ebenso hofft auch der subjektive Idealist Fichte, in den Grenzen der idealistischen Philosophie Platz zu finden für jenen „Realismus, der sich uns allen und selbst dem entschiedensten Idealisten aufdringt, wenn es zum Handeln kommt, d. h. die Annahme, daß Gegenstände ganz unabhängig von uns außer uns existieren“ (Werke, I, 455).

Der neueste Positivismus Machs ist über Schulze und Fichte nicht weit hinausgekommen! Als Kuriosum erwähnen wir, daß für Basarow auch in dieser Frage niemand außer Pledianow existiert: es gibt eben kein stärkeres Tier als die Katze. Basarow höhnt über die „salto-vitale Philosophie Pledianows“ („Beiträge“, S. 69), bei dem sich tatsächlich die abgeschmackte Phrase findet, der „Glaube“ an die Existenz der Außenwelt sei „der unvermeidliche Salto vitale“ (Lebenssprung) „der Philosophie“ („Anmerkung zu L. Feuerbach“, S. 111). Der Ausdruck „Glaube“, den Pledianow, wenn auch in Anführungszeichen, Hume nachspricht, offenbart einen Wirrwarr in seiner Terminologie, das läßt sich nicht leugnen. Aber wozu da Pledianow?? Warum suchte sich Basarow keinen anderen Materialisten aus, etwa Feuerbach? Nur, weil er ihn nicht kennt? Unwissenheit ist aber kein Argument. Auch Feuerbach macht, wie Marx und Engels, in den Grundfragen der Erkenntnistheorie einen vom Standpunkt Schulzes, Fichtes und Machs unerlaubten „Sprung“ in die Praxis. Feuerbach kritisiert den Idealismus und stellt dessen Wesen dabei mit einem prägnanten Zitat aus Fichte dar, das in ausgezeichneter Weise den Machismus erledigt: „Du setzest“, schrieb Fichte, „die Dinge als wirklich, als außer dir vorhanden, nur weil du siehst, hörst, fühlst. Aber Sehen, Fühlen, Hören sind nur Empfindungen… Du empfindest also nicht die Gegenstände, sondern nur die Empfindungen.“ (Feuerbach, Werke, X. Band, S. 185.) Und Feuerbach erwidert, der Mensch sei kein abstraktes Ich, sondern entweder ein Mann oder ein Weib, und man sei vollkommen berechtigt, die Frage, ob die Welt eine Empfindung ist, auf gleichen Fuß zu stellen mit der Frage, ob der andere Mensch eine Empfindung von mir ist oder ob unsere Verhältnisse in der Praxis das Gegenteil beweisen. „Das eben ist der Grundmangel des Idealismus, daß er die Frage von der Objektivität oder Subjektivität, von der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Welt nur vom theoretischen Standpunkte aus sich stellt und löst.“ (189, ebenda.) Feuerbach legt die Ergebnisse der gesamten menschlichen Praxis der Erkenntnistheorie zugrunde. Allerdings, sagt er, erkennen auch die Idealisten in der Praxis die Realität sowohl unseres Ich als auch des fremden Du an. Für die Idealisten ist das „ein nur für das Leben, aber nicht für die Spekulation gültiger Standpunkt. Allein eine Spekulation, die mit dem Leben in Widerspruch steht, die den Standpunkt des Todes, der vom Leibe geschiedenen Seele zum Standpunkt der Wahrheit macht, ist selbst eine tote und falsche Spekulation.“ (192.) Bevor wir empfinden, atmen wir; ohne Luft, ohne Essen und Trinken können wir nicht existieren.

„Also ums Essen und Trinken handelt es sich auch bei der Frage von der Idealität oder Realität der Welt? ruft entrüstet der Idealist aus. Welche Gemeinheit! Welcher Verstoß gegen die gute Sitte, auf dem Katheder der Philosophie ebenso wie auf der Kanzel der Theologie über den Materialismus in wissenschaftlichem Sinne aus allen Leibeskräften zu schimpfen, dafür aber an Table d‘hôte dem Materialismus im gemeinsten Sinne zu huldigen!“ (196.) Und Feuerbach ruft aus, die subjektive Empfindung der objektiven Welt gleichsetzen „heißt die Pollution mit der Zeugung identifizieren“ (198).

Diese Bemerkung ist nicht besonders höflich, sie trifft aber auf jene Philosophen, die lehren, daß die Sinnesvorstellung eben die außer uns existierende Wirklichkeit sei, haargenau zu.

Der Gesichtspunkt des Lebens, der Praxis muß der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie sein. Und er führt unvermeidlich zum Materialismus, da er von vornherein die zahllosen Schrullen der Professorenscholastik beiseite wirft. Freilich darf dabei nicht vergessen werden, daß das Kriterium der Praxis schon dem Wesen der Sache nach niemals irgendeine menschliche Vorstellung vollständig bestätigen oder widerlegen kann. Auch dieses Kriterium ist „unbestimmt“ genug, um die Verwandlung der menschlichen Kenntnisse in ein „Absolutum“ zu verhindern, zugleich aber auch bestimmt genug, um gegen alle Spielarten des Idealismus und Agnostizismus einen unerbittlichen Kampf zu führen. Wenn das, was von unserer Praxis bestätigt wird, die einzige, letzte, objektive Wahrheit ist, so ergibt sich daraus, daß man als einzigen Weg zu dieser Wahrheit den Weg der auf dem materialistischen Standpunkt stehenden Wissenschaft anerkennen muß. Bogdanow zum Beispiel läßt Marx‘ Theorie des Geldumlaufs als objektive Wahrheit nur „für unsere Zeit“ gelten und nennt es „Dogmatismus“, wenn man dieser Theorie eine „übergeschichtlich-objektive“ Wahrheit zuerkennt („Empiriomonismus“, Buch III, S. VII). Das ist wieder eine Konfusion. Daß diese Theorie der Praxis entspricht, kann durch keine künftigen Umstände geändert werden, und zwar aus demselben einfachen Grunde, aus welchem die Wahrheit, daß Napoleon am 5. Mai 1821 gestorben ist, ewig ist. Da aber das Kriterium der Praxis – d. h. der Verlauf der Entwicklung aller kapitalistischen Länder in den letzten Jahrzehnten – nur die objektive Wahrheit der ganzen sozialökonomischen Theorie von Marx überhaupt, und nicht die irgendeines Teils, einer Formulierung u. dgl. beweist, so ist klar, daß es ein unverzeihliches Zugeständnis an die bürgerliche Ökonomie ist, wenn hier von „Dogmatismus“ der Marxisten gesprochen wird. Die einzige Schlußfolgerung aus der von den Marxisten vertretenen Auffassung, daß die Theorie von Marx eine objektive Wahrheit ist, besteht im folgenden: Auf dem Wege der Marxschen Theorie fortschreitend, werden wir uns der objektiven Wahrheit mehr und mehr nähern (ohne sie jemals zu erschöpfen); auf jedem anderen Wege aber können wir zu nichts anderem gelangen als zu Konfusion und Unwahrheit.

 

Kapitel III. Die Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus und des Empiriokritizismus.
6.Freiheit und Notwendigkeit

Auf S. 140/141 der „Beiträge“ zitiert A. Lunatscharski Engels‘ Betrachtungen im „Anti-Dühring“ über diese Frage und schließt sich vollständig der „erstaunlich prägnanten und treffenden“ Charakteristik der Sache an, die Engels auf der entsprechenden „wundervollen Seite“8 dieses Werkes gegeben hat.

Des Wundervollen ist hier allerdings viel. Und am „wundervollsten“ ist, daß sowohl A. Lunatscharski als auch die vielen anderen Machisten, die Marxisten sein möchten, die erkenntnistheoretische Bedeutung der Engelsschen Betrachtungen über Freiheit und Notwendigkeit „übersehen“ haben. Gelesen haben sie es und abgeschrieben auch, aber den Zusammenhang haben sie nicht verstanden.

Engels schreibt: „Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. ,Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird.‘ Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebnen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen. Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein des Menschen selbst regeln – zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können. Freiheit des Willens heißt daher nichts andres als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein… Freiheit besteht also in der, auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur.“ (S. 112/113 der 5. dtsch. Aufl.)9

Analysieren wir, auf welche erkenntnistheoretischen Annahmen sich diese ganze Betrachtung gründet.

Erstens erkennt Engels gleich zu Anfang seiner Betrachtungen die Naturgesetze, die Gesetze der äußeren Natur, die Naturnotwendigkeit an – d. h. alles das, was Mach, Avenarius, Petzoldt und Co. für „Metaphysik“ erklären. Hätte Lunatscharski über Engels‘ „wundervolle“ Betrachtungen richtig nachdenken wollen, so hätte er den grundlegenden Unterschied zwischen der materialistischen Erkenntnistheorie und dem Agnostizismus und Idealismus sehen müssen, die die Gesetzmäßigkeit der Natur leugnen oder sie als eine bloß „logische“ usw. usf. bezeichnen.

Zweitens gibt sich Engels nicht damit ab, „Definitionen“ der Freiheit und Notwendigkeit auszuklügeln, jene scholastischen Definitionen, für die sich die reaktionären Professoren (wie Avenarius) und ihre Schüler (wie Bogdanow) am meisten interessieren. Engels nimmt die Einsicht und den Willen des Menschen einerseits, die Naturnotwendigkeit anderseits und sägt einfach statt jeder Bestimmung, statt jeder Definition, daß die Naturnotwendigkeit das Primäre, der Wille und das Bewußtsein des Menschen das Sekundäre sind. Die letzteren müssen sich unvermeidlich und notwendig der ersteren anpassen; für Engels ist das derart selbstverständlich, daß er auf die Erläuterung seiner Ansicht keine weiteren Worte verschwendet. Nur die russischen Machisten brachten es fertig, sich über die allgemeine Bestimmung des Materialismus durch Engels zu beschweren (die Natur ist das Primäre, das Bewußtsein das Sekundäre: man erinnere sich an Bogdanows „Bedenken“ hierbei!) und gleichzeitig eine Einzelanwendung dieser allgemeinen und grundlegenden Bestimmung durch Engels „wundervoll“ und „erstaunlich treffend“ zu finden!

Drittens gibt es für Engels keinen Zweifel an der Existenz der „blinden Notwendigkeit“. Er erkennt die Existenz einer von dem Menschen nicht erkannten Notwendigkeit an. Das geht sonnenklar aus der oben zitierten Stelle hervor. Übrigens, wie kann der Mensch, vom Standpunkt der Machisten, Kenntnis haben von der Existenz dessen, was er nicht kennt? Kenntnis haben von der Existenz der nicht erkannten Notwendigkeit? Ist das denn nicht „Mystik“, nicht „Metaphysik“, nicht ein Anerkennen von „Fetischen“ und „Idolen“, ist das nicht das „Kantische unerkennbare Ding an sich“? Hätten sich die Machisten hineingedacht, dann hätte ihnen die völlige Identität der Engelsschen Betrachtungen über die Erkennbarkeit der objektiven Natur der Dinge und über die Verwandlung des „Dinges an sich“ in ein „Ding für uns“ einerseits und seiner Betrachtungen über die blinde, nicht erkannte Notwendigkeit anderseits nicht entgehen können. Die Entwicklung des Bewußtseins bei jedem einzelnen menschlichen Individuum und die Entwicklung des kollektiven Wissens der gesamten Menschheit zeigen uns auf Schritt und Tritt die Verwandlung des nicht erkannten „Dinges an sich“ in ein erkanntes „Ding für uns“, die Verwandlung der blinden, nicht erkannten Notwendigkeit, der „Notwendigkeit an sich“, in eine erkannte „Notwendigkeit für uns“.

Gnoseologisch besteht zwischen der einen und der anderen Verwandlung absolut kein Unterschied, denn der grundlegende Standpunkt ist hier wie dort derselbe, nämlich der materialistische: die Anerkennung der objektiven Realität der Außenwelt und der Gesetze der äußeren Natur, wobei sowohl diese Welt als auch diese Gesetze für den Menschen sehr wohl erkennbar sind, aber nie restlos von ihm erkannt werden können. Wir kennen die Naturnotwendigkeit in den Witterungserscheinungen nicht, und insofern sind wir unvermeidlich Sklaven des Wetters. Aber wenngleich wir diese Notwendigkeit nicht kennen, so wissen wir doch, daß sie existiert. Woher wissen wir das? Aus derselben Quelle, aus der wir wissen, daß die Dinge außerhalb unseres Bewußtseins und unabhängig von ihm existieren, nämlich aus der Entwicklung unserer Kenntnisse, die jedem Menschen millionenfach zeigt, daß auf Nichtwissen Wissen folgt, wenn der Gegenstand auf unsere Sinnesorgane einwirkt, und daß um gekehrt Wissen zu Nichtwissen wird, wenn die Möglichkeit solcher Einwirkung aufgehoben wird.

Viertens wendet Engels in der zitierten Betrachtung offenkundig die „saltovitale“ Methode in der Philosophie an, d. h., er macht den Sprung von der Theorie zur Praxis. Keiner jener gelehrten (und albernen) Philosophieprofessoren, denen unsere Machisten folgen, wird sich je erlauben, derartige für einen Vertreter der „reinen Wissenschaft“ schmachvolle Sprünge zu machen. Für sie sind die Erkenntnistheorie, in der man möglichst verzwickte „Definitionen“ austüfteln muß, und die Praxis zwei ganz verschiedene Dinge. Bei Engels bricht die ganze lebendige menschliche Praxis in die Erkenntnistheorie selbst ein, wobei sie das objektive Kriterium der Wahrheit gibt: solange wir das Naturgesetz nicht kennen, das neben unserem Bewußtsein, außerhalb unseres Bewußtseins existiert und wirkt, macht es uns zu Sklaven der „blinden Notwendigkeit“. Sobald wir aber dieses Gesetz, das (wie Marx tausendmal wiederholte) unabhängig von unserem Willen und unserem Bewußtsein wirkt, erkannt haben, sind wir die Herren der Natur. Die Herrschaft über die Natur, die sich in der Praxis der Menschheit äußert, ist das Resultat der objektiv richtigen Widerspiegelung der Erscheinungen und Vorgänge der Natur im Kopfe des Menschen, ist der Beweis dafür, daß diese Widerspiegelung (in den Grenzen dessen, was uns die Praxis zeigt) objektive, absolute, ewige Wahrheit ist.

Zu welchem Ergebnis sind wir nun gekommen? Jeder Schritt in Engels‘ Betrachtung, buchstäblich fast jeder Satz, jede These beruht gänzlich und ausschließlich auf der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus, auf Annahmen, die zu dem ganzen machistischen Unsinn von den Körpern als Empfindungskomplexen, von „Elementen“, vom „Zusammenfallen der sinnlichen Vorstellung mit der außer uns existierenden Wirklichkeit“ usw. usf. in schärfstem Gegensatz stehen. Nicht im geringsten darüber beunruhigt, verlassen die Machisten den Materialismus, wiederholen (à la Berman) abgegriffene Trivialitäten über die Dialektik und akzeptieren gleichzeitig mit Freuden eine der Anwendungen des dialektischen Materialismus! Sie haben ihre Philosophie aus der eklektischen Bettelsuppe geschöpft und fahren fort, dem Leser mit diesem Zeug aufzuwarten. Sie nehmen ein Stückchen Agnostizismus und ein Tröpfchen Idealismus von Mach, vermengen das mit einem Stückchen dialektischen Materialismus von Marx und stammeln, dieses Sammelsurium sei eine Weiterentwicklung des Marxismus. Sie glauben, es sei reiner Zufall, wenn Mach, Avenarius, Petzoldt und alle ihre sonstigen Autoritäten nicht die geringste Ahnung davon haben, wie diese Frage (Freiheit und Notwendigkeit) von Hegel und Marx gelöst wurde: nun, ganz einfach, sie haben eben irgendeine Seite in irgendeinem Büchlein nicht gelesen, doch könne gar keine Rede davon sein, daß diese „Autoritäten“, was den wirklichen Fortschritt der Philosophie im 19. Jahrhundert anbetrifft, völlige Ignoranten, philosophische Obskuranten waren und geblieben sind.

Hier die Betrachtung eines solchen Obskuranten, des Ordinarissimus der Philosophie an der Wiener Universität Ernst Mach:

„Die Richtigkeit der Position des ,Determinismus‘ oder ,Indeterminismus‘ läßt sich nicht beweisen. Nur eine vollendete oder nachweisbar unmögliche Wissenschaft könnte hier entscheiden. Es handelt sich hier eben um Voraussetzungen, die man an die Betrachtung der Dinge heranbringt, je nachdem man den bisherigen Erfolgen oder Mißerfolgen der Forschung ein größeres subjektives Gewicht beimißt. Während der Forschung aber ist jeder Denker notwendig theoretisch Determinist.“ („Erkenntnis und Irrtum“, 2. dtsch. Aufl., S. 282/283.)

Ist das nicht Obskurantismus, wenn die reine Theorie sorgfältig von, der Praxis getrennt wird? Wenn der Determinismus auf das Gebiet der „Forschung“ beschränkt wird, während auf dem Gebiet der Moral, des gesellschaftlichen Handelns und auf allen sonstigen Gebieten, außer dem der „Forschung“, die Frage der „subjektiven“ Wertung überlassen wird? In meinem Arbeitszimmer, sagt der gelehrte Pedant, bin ich Determinist; daß aber ein Philosoph sich um eine einheitliche, Theorie und Praxis umfassende, auf dem Determinismus aufgebaute Weltanschauung zu kümmern hat, davon ist keine Rede. Mach redet deshalb Banalitäten, weil ihm die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit theoretisch vollständig unklar ist.

„ . . . Jede neue Entdeckung deckt Mängel unserer Einsicht auf, enthüllt einen bisher unbeachteten Rest von Abhängigkeiten “ (283.) Ausgezeichnet! Ist also dieser „Rest“ eben das „Ding an sich“, das durch unsere Erkenntnis immer gründlicher widergespiegelt wird? Nichts dergleichen : „ . . . So muß also auch derjenige, welcher in der Theorie einen extremen Determinismus vertritt, praktisch doch Indeterminist bleiben . . . “ (283.) Ein gütlicher Ausgleich also10: die Theorie den Professoren, die Praxis den Theologen! Oder: in der Theorie Objektivismus (d.h. „verschämter“ Materialismus), in der Praxis die „subjektive Methode in der Soziologie“10. Daß die russischen Ideologen des Kleinbürgertums, die Volkstümler von Lessewitsch bis Tschernow für eine so fade Philosophie Sympathie hegen, ist nicht verwunderlich. Daß sich Leute, die Marxisten sein möchten, durch solchen Unsinn einfangen ließen und die gar zu absurden Folgerungen Machs schamhaft verdecken, das ist schon äußerst traurig.

Aber in der Frage des Willens begnügt sich Mach nicht mit Konfusion und halbschlächtigem Agnostizismus, sondern geht viel weiter… „Unser Hunger“, lesen wir in der „Mechanik“, „ist nicht so wesentlich verschieden von dem Streben der Schwefelsäure nach Zink, und unser Wille nicht so sehr verschieden von dem Druck des Steines auf die Unterlage.“ „Wir werden uns dann“ (d. h. bei einer solchen Auffassung) „der Natur wieder näher fühlen, ohne daß wir nötig haben, uns selbst in eine uns nicht mehr verständliche Staubwolke von Molekülen oder die Natur in ein System von Spukgestalten aufzulösen.“ (S. 434 der franz. Übersetzung [S. 493 bis 494].) Also, wir brauchen keinen Materialismus („Staubwolke von Molekülen“ oder Elektronen, d. h. Anerkennung der objektiven Realität der materiellen Welt), wir brauchen auch“ keinen solchen Idealismus, der die Welt für das „Anderssein“ des Geistes hält; möglich aber ist ein Idealismus, der die Welt als Willen anerkennt! Wir sind nicht nur über den Materialismus, sondern auch über den Idealismus „irgendeines“ Hegel erhaben, haben aber nichts dagegen, mit einem Idealismus im Geiste Schopenhauers zu kokettieren! Unsere Machisten, die die Miene der gekränkten Unschuld aufsetzen, sobald die Verwandtschaft Machs mit dem philosophischen Idealismus erwähnt wird, zogen es auch hier vor, diesen heiklen Punkt einfach mit Stillschweigen zu übergehen.11 Indessen dürfte in der philosophischen Literatur schwerlich eine Darstellung der Anschauungen Machs anzutreffen sein, in der nicht seine Neigung zur Willensmetaphysik, d. h. zum voluntaristischen Idealismus hervorgehoben würde. Darauf hat J. Baumann hingewiesen.11 Und der Machist H. Kleinpeter hat in seiner Erwiderung darauf diesen Punkt nicht bestritten und hat erklärt, daß allerdings „Kant und Berkeley Mach näherstehen als der in der Naturwissenschaft herrschende metaphysische Empirismus“ (d. h. der naturwüchsige Materialismus; ebenda, Bd. 6, S. 87).12Darauf verweist auch E. Becher, der erklärt: Wenn Mach an einigen Stellen die Willensmetaphysik anerkennt und sie an anderen Stellen wieder verleugnet, so beweise dies nur die Willkür seiner Terminologie,- in Wirklichkeit sei außer Zweifel, daß Mach der Willensmetaphysik nahestehe.13 Daß diese Willensmetaphysik (d. h. der Idealismus) der „Phänomenologie“ (d. h. dem Agnostizismus) beigemischt ist, bestätigt auch Lucka.14 Ebenso weist W. Wundt15 darauf hin. Daß Mach ein Phänomenalist ist, der „einer Willensmetaphysik nicht abgeneigt“ ist, wird auch im Handbuch der Geschichte der neueren Philosophie von Ueberweg-Heinze16 konstatiert.

Mit einem Wort, Machs Eklektizismus und seine Neigung zum Idealismus ist aller Welt klar, ausgenommen höchstens die russischen Machisten.

 

 

Antonio Gramsci
„Die Revolution gegen das Kapital“
November 1917 in „Avanti!“

Die Revolution der Bolschewiki ist fest in der allgemeinen Revolution des russischen Volkes verwurzelt. Es waren die Maximalisten17, die bis vor zwei Monaten das notwendige Ferment bildeten, damit die Ereignisse nicht stagnieren und der Weg in die Zukunft nicht dadurch unterbrochen wird, daß sich eine Ordnung in endgültiger Form – und dies wäre eine bürgerliche Ordnung – etabliert –, diese Maximalisten haben die Macht errungen, sie haben ihre Diktatur errichtet und beginnen, sozialistische Formen zu entwickeln, in denen die Revolution letztlich die Möglichkeit finden muß, ihre Entwicklung harmonisch fortzusetzen, und zwar ohne daß von den großen inzwischen realisierten Errungenschaften allzu große Erschütterungen ausgehen.

Die Revolution der Bolschewiki ist mehr von der Ideologie als von den Tatsachen hervorgebracht worden. (Deshalb ist es im Grunde unwichtig, mehr zu wissen, als wir wissen.) Sie war die Revolution gegen das Kapital von Karl Marx. Das Kapital von Karl Marx war in Rußland mehr ein Buch der Bürgerlichen als der Proletarier. Es war der kritische Beweis für die fatale Notwendigkeit, daß sich in Rußland eine Bourgeoisie bildet, daß eine kapitalistische Ära beginnt, daß sich eine Zivilisation westlichen Typs durchsetzt, bevor das Proletariat überhaupt erst an seinen Aufstand, an seine Forderungen als Klasse, an seine Revolution denken kann.

Die Tatsachen haben die Ideologie überholt. Die Tatsachen haben die kritischen Schemata ad absurdum geführt, denen zufolge die Geschichte Rußlands sich nach den Grundprinzipien des historischen Materialismus hätte entwickeln müssen. Die Bolschewiki ignorieren Karl Marx; sie bestätigen mit der vollendeten Aktion, mit den realisierten Errungenschaften als Beweis, daß die Grundprinzipien des historischen Materialismus nicht so eisern sind, wie man hätte annehmen können und wie man annahm.

Dennoch besitzen auch diese Vorgänge einen fatalen Charakter; und wenngleich die Bolschewiki einige Feststellungen des Kapitals ignorieren, so ignorieren sie nicht das ihm innewohnende, lebensspendende Gedankengut. Sie sind keine „Marxisten“, das ist alles; sie haben nicht auf der Grundlage der Werke des Meisters eine aufgesetzte Lehre aus dogmatischen und unbestreitbaren Behauptungen fabriziert. Sie leben gemäß dem marxistischen Denken, das niemals stirbt, das eine Fortsetzung des italienischen und deutschen idealistischen Denkens darstellt und das bei Marx durch positivistische und naturalistische Zusätze entweiht wurde. Und dieses Denken stellt stets als den wichtigsten Faktor nicht die ökonomischen Tatsachen, nicht die Elementargewalten an die erste Stelle, sondern den Menschen, die menschliche Gesellschaft, die Menschen, die sich zusammenfinden, sich untereinander verständigen, die vermittels dieser Kontakte (Zivilisation) ein kollektives soziales Wollen hervorbringen, die die ökonomischen Tatbestände begreifen, bewerten und diese mit ihrem Wollen in Übereinstimmung bringen, bis dieses (Wollen) zur Triebkraft der Ökonomie, zum Modell der objektiven Realität wird, die lebt, sich entwickelt und den Charakter einer brodelnden irdischen Materie annimmt, die dorthin gelenkt werden kann, wo es dem Wollen und wie es dem Wollen entspricht.

Marx hat das Vorhersehbare vorhergesehen. Er konnte den europäischen Krieg18 nicht voraussehen, oder besser, er konnte nicht voraussehen, daß dieser Krieg tatsächlich diese Zeitdauer und diese Ergebnisse hatte. Er konnte nicht voraussehen, daß dieser Krieg während dreier Jahre unsagbarer Leiden, unsagbaren Elends in Rußland ein solches kollektives Wollen des Volkes hervorbringt, wie er es hervorbrachte. Ein Wollen dieser Art hat normalerweise zur notwendigen Folge, sich in einem langen Prozeß feiner Verästelungen, in einer breiten Aufeinanderfolge von Klassenerfahrungen zu formieren. Die Menschen sind träge, sie haben das Bedürfnis, sich zu organisieren, zunächst äußerlich in Form von Vereinen, Verbänden, später innerlich, nach Überzeugungen, nach Zielvorstellungen …19 mit einer unaufhörlichen Kontinuität und Vielfalt äußerer Impulse. Deshalb also ermöglichen die Grundprinzipien der historischen Kritik des Marxismus normalerweise, die Realität richtig zu erfassen, sie einzufangen, sie sichtbar zu machen und zu charakterisieren. Normalerweise bringen – vermittels des immer intensiveren Klassenkampfes – die beiden Klassen der kapitalistischen Welt die Geschichte voran. Das Proletariat leidet unter seinem unmittelbaren Elend, es ist fortwährend von Entbehrungen betroffen und übt Druck auf die Bourgeoisie aus, um die eigenen Bedingungen zu verbessern. Der Kampf zwingt die Bourgeoisie, die Produktionstechnik zu verbessern, um die Produktion effizienter zu machen, damit die Befriedigung ihrer unmittelbarsten Bedürfnisse möglich wird. Es vollzieht sich ein bedrückender Wettlauf zum Besseren hin, der den Produktionsrhythmus beschleunigt, der ein kontinuierliches Anwachsen des Umfangs der Güter gewährleistet, die der Gemeinschaft dienen sollen. Und in diesem Wettlauf gehen viele unter, die Sehnsüchte der Zurückgebliebenen werden immer dringlicher, und die Massen befinden sich stets im Zustand des Aufbegehrens. Und aus dem Chaos-Volk geht immer mehr Klarheit im Denken hervor, es wird sich immer mehr der eigenen Kraft, der eigenen Fähigkeit bewußt, die soziale Verantwortung wahrzunehmen, um Sachwalter des eigenen Schicksals zu werden.

Dies ist normal, sofern sich die Vorgänge in einem bestimmten Rhythmus wiederholen, sofern sich die Geschichte nach (zwar) immer komplexeren, nach Bedeutung und Gewicht immer reicheren, doch immerhin gleichen Momenten entwickelt. In Rußland aber hat der Krieg Willensäußerungen freigesetzt. Diese haben infolge der in drei Jahren angestauten Leiden sehr rasch einen Gleichklang gefunden. Die Entbehrungen waren ungeheuer, der Hunger und der Hungertod vermochten alle zusammenzuschließen, veranlaßte mit einem Schlag Dutzende Millionen Menschen zum Aufbegehren. Die Willensäußerungen wurden in Gleichklang versetzt, zunächst mechanisch, nach der ersten Revolution20 aktiv, bewußtseinsmäßig.

Die sozialistische Propaganda hat das russische Volk in Kontakt mit den Erfahrungen des Proletariats der anderen Länder gebracht. Die sozialistische Propaganda belebte augenblicklich auf dramatische Weise die Geschichte des Proletariats, dessen Kämpfe gegen den Kapitalismus, die lange Folge von Anstrengungen, die unternommen werden müssen, um sich aus den Zwängen des Sklaventums zu befreien, die das Proletariat erniedrigen, damit ein neues Bewußtsein, ein unmittelbares Zeugnis einer künftigen Welt entsteht. Die sozialistische Propaganda hat das soziale Wollen des russischen Volkes hervorgebracht. Warum sollte es warten, daß sich in Rußland die Entwicklung Englands wiederholt, daß sich in Rußland eine Bourgeoisie formiert, daß der Klassenkampf entfacht wird, damit ein Klassenbewußtsein entsteht und schließlich der Untergang der kapitalistischen Welt sich ereignet? Das russische Volk hat diese Erfahrungen im Prozeß des Denkens, und sei es auch des Denkens einer Minderheit, durchgemacht. Es ist über diese Erfahrungen hinausgegangen. Dies diente ihm, sich zu behaupten, wie ihm die westlichen kapitalistischen Erfahrungen dienen werden, sich in kurzer Zeit auf die Höhe der Produktion der westlichen Welt zu erheben. Nordamerika ist in kapitalistischer Hinsicht weiter fortgeschritten als England, weil in Nordamerika die Angelsachsen mit einem Schlag bei einem Stand angefangen haben, zu dem England nach einer langen Entwicklung gelangt war. Das sozialistisch erzogene russische Proletariat beginnt seine Geschichte beim höchsten Stand der Produktion, den England heute erreicht hat, denn aus der Notwendigkeit anzufangen, wird es vom bereits Erreichten ausgehen, und von diesem Erreichten wird es den Impuls erhalten, um zu jener ökonomischen Reife zu gelangen, die nach Marx die notwendige Bedingung des Kollektivismus ist. Die Revolutionäre werden selbst die notwendigen Bedingungen für die umfassende und volle Verwirklichung ihr Ideale schaffen. Sie werden in geringerer Zeit geschaffen, als dies der Kapitalismus tat. Die von den Sozialisten geübte Kritik am bürgerlichen System, mit der die Unzulänglichkeiten, die Vergeudung des Reichtums offengelegt wurden, veranlaßt die Revolutionäre, es besser zu machen und jene Vergeudung zu vermeiden, um nicht in Mangelerscheinungen zu verfallen. Es wird im Prinzip ein Kollektivismus des Elends und des Leidens sein. Doch sind diese Bedingungen des Elends und des Leidens von einem bürgerlichen Regime ererbt. Der Kapitalismus könnte unmittelbar in Rußland nicht mehr tun, als der Kollektivismus vermag. Er könnte heute weniger ausrichten, weil er sofort ein unzufriedenes, aufgebrachtes Proletariat gegen sich hätte, das nunmehr nicht bereit wäre, weitere Jahre die Qualen und Widerwärtigkeiten zu erleiden, die die ökonomische Unzulänglichkeit mit sich bringt. Auch von einem absoluten, humanen Gesichtspunkt aus hat in Rußland der sofortige Sozialismus seine Rechtfertigung. Die Leiden, die dem Frieden folgen werden, können nur in dem Maße ertragen werden, wie die Proletarier begreifen werden, daß es von ihrem Wollen, von ihrem Arbeitseifer abhängt, in der kürzestmöglichen Zeit die Leiden zu überwinden.

Man hat den Eindruck, daß die Maximalisten in diesem Moment eine biologisch notwendige, spontane Erscheinungsform darstellen, damit die russische Gesellschaft nicht einem noch schrecklicheren Zusammenbruch verfällt, damit die russische Gesellschaft, indem sie sich einer gigantischen eigenständigen Arbeit, einer Arbeit der eigenen Wiedergeburt widmet, weniger die Gelüste des ausgehungerten Wolfes verspüren muß und damit Rußland nicht zu einer großen Fleischkammer für Raubtiere wird, die sich gegenseitig zerfleischen.

 

 

Auszüge aus: José Carlos Mariátegui
„Verteidigung des Marxismus”21

1930

Der historische Materialismus erkennt in seinem Ursprung drei Quellen: Die klassische deutsche Philosophie, die englische Ökonomie und den französischen Sozialismus. Das ist genau das Konzept von Lenin. Laut ihm, gehen Kant und Hegel voran und ihnen entstammen zuerst Marx und später Lenin – fügen wir an – in der gleichen Art wie dem Sozialismus der Kapitalismus vorangeht und er ihm entstammt. Zur Aufmerksamkeit solch hervorragender Vertreter der idealistischen Philosophie wie die Italiener Croce22 und Gentile23, die sich dem philosophischen Hintergrund des Denken von Marx gewidmet haben, ist diese offensichtliche Abstammung des historischen Materialismus bestimmt nicht fremd. Die weitreichende Dialektik von Kant ist in der Geschichte des modernen Denkens der marxistischen Dialektik ein Vorspiel.

Aber diese Angehörigkeit bedeutet nicht, dass der Marxismus sich in irgendeiner Leibeigenschaft unter Hegel oder seiner Philosophie unterwirft, welche, laut der berühmten Phrase, durch Marx auf seine Füße gestellt wurde, gegen die Absichten von seinem Verfasser, welcher diese auf den Kopf gestellt hat. Marx, an erster Stelle, schlug nie eine Ausarbeitung eines philosophischen Systems der historischen Interpretation vor, das dazu gedacht ist als Werkzeug für das Handeln seiner politischen und revolutionären Idee zu dienen. Seine Arbeit ist, in Teilen, Philosophie, weil dieser Typ der Spekulationen sich nicht auf die Systeme in ihrem eigenen Sinn reduzieren lässt, in welchen, wie Benedetto Croce warnt – für den Philosophie alles Denken ist, was philosophischen Charakter hat –, sie manchmal nicht gefunden werden sondern ihr Äußeres. Die materialistische Auffassung von Marx wird, dialektisch, als Antithese von Hegels idealistischer Auffassung geboren.

[…]

Die marxistische Kritik studiert konkret die kapitalistische Gesellschaft. Solange der Kapitalismus nicht endgültig überwunden ist, ist der Kanon von Marx noch immer gültig. Sozialismus, das heißt der Kampf, die gesellschaftliche Ordnung des Kapitalismus in eine kollektivistische umzuwandeln, hält die Kritik am Leben, setzt sie fort, bestätigt sie, korrigiert sie. Vergeblich ist jeder Versuch sie als eine simple wissenschaftliche Theorie einzustufen, während sie in der Geschichte als Evangelium und Methode einer Massenbewegung arbeitet.

[…]

Marx lebt in dem Kampf für die Realisierung des Sozialismus, welchen auf der Welt unzählige Volksmassen, bewegt von seiner Doktrin, auskämpfen. Das Schicksal der wissenschaftlichen oder philosophischen Theorien, die er benutzte, dadurch, dass er sie überwand und weitreichend überschritt, als Bestandteile seiner theoretischen Arbeit, kompromittiert in keinem Fall die Gültigkeit und Lebendigkeit seiner Idee. Dies ist radikal anders zum wechselhaften Schicksal der wissenschaftlichen und philosophischen Ideen die ihn begleiten oder seiner Zeit unmittelbar vorhergehen.

[…]

VII Der marxistische Determinismus

Eine andere häufige Haltung der Intellektuellen, die sich selbst damit unterhalten an der marxistischen Bibliographie rumzufummeln, ist in ihrem eigenen Interesse den Determinismus von Marx und Marx‘ Schule aufzubauschen und zu erklären, auch von diesem Standpunkt, ein Produkt der mechanischen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts, unvereinbar mit der heldenhaften, freiwilligen Konzeption des Lebens, zu der die moderne Welt nach dem Krieg tendiert. Diese Vorwürfe sind nicht vereinbar mit den Kritiken der sozialistischen Bewegung des rationalen und utopischen und am Ende mystischen Aberglauben. Aber Henri de Man24 konnte nicht anders als die Hände an ein Argument zu legen, das so viel Schaden an den Intellektuellen des 19. Jahrhunderts hinterlässt, verführt wie mit dem Snobismus der Reaktion gegen das „dumme 19. Jahrhundert”. Der belgische Revisionist beobachtet in diesem Zusammenhang eine bestimmte Vorsicht. „Wir müssen klarstellen, dass Marx nicht die Vorwürfe verdient, die ihm häufig gemacht werden, dass er ein Fatalist ist, in dem Sinne dass er den Einfluss der menschlichen Willensäußerung in der geschichtlichen Entwicklung negiert hat; was er glaubt ist dass diese Willensäußerung vorbestimmt ist.” Und er fügt an, dass „Jünger von Marx richtig sind, wenn sie ihren Lehrer gegen die Vorwürfe verteidigen, diese Form des Fatalismus gepredigt zu haben.” nichts davon hindert ihn jedoch daran, sie zu beschuldigen, „an einen anderen Fatalismus zu glauben, den des unausweichlich kategorischen Endes”, da „es aus der marxistischen Konzeption eine gesellschaftliche Willensäußerung gibt, jenen Gesetzen unterworfen, die erreicht werden durch den Klassenkampf und das unausweichliche Ergebnis jener ökonomischen Evolution die Interessenwidersprüche schafft”.

Im Wesen nimmt der Neorevisionismus, wenn auch diskret, die idealistische Kritik, die die Aktion des Willens und des Geistes beansprucht, an. Aber diese Kritik betrifft nur die sozialdemokratische Orthodoxie, die wie schon festgestellt nicht marxistisch sondern lassalleanisch ist, ein bewiesener Fakt bewiesen für die Gültigkeit in der sich heute die sozialdemokratische deutsche Wortfolge findet: „Die Rückkehr zu Lassalle.” Damit diese Kritik gültig ist müsste man anfangen mit dem Beweis, dass Marxismus Sozialdemokratie ist, etwas was Henri de Man zu tun unterlässt. Er sieht aber im Gegensatz dazu die III. Internationale als Erbe der Internationalen Arbeiterassoziation, in deren Versammlungen ein Mystizismus sehr nahe dem des Christentums der Katakomben genährt wurde, und in seinem Buch verfasst er diese Beurteilung: „Die vulgären Marxisten des Kommunismus sind die wahren Nutzer des marxistischen Erbes. Sie sind es nicht in dem Sinne, dass sie Marx besser verstehen als in Referenz zu ihrer Epoche, sondern ihn effizienter anwenden für die Aufgaben ihrer Epoche, für die Umsetzung ihrer Ziele. Das Bild das Marx uns von Kautsky anbietet sieht mehr wie das Original aus, als jenes, das Lenin unter seinen Jüngern popularisiert hat, aber Kautsky hat eine Politik kommentiert, die Marx nie beeinflusst hat, während die Worte, die Losung die Lenin von Marx genommen hat sich auf die gleiche Politik bezieht nachdem dieser starb und weiter neue Realitäten geschaffen hat.”

Lenin wird eine Phrase von Unamuno25 in seinem Die Agonie des Christentums angehängt; die noch einmal betont wird, widersprüchlich der Betrachtung, dass er seine Kraft gegen die Realität richtete: „Pech für die Realität!”. Der Marxismus, wo er revolutionär war – das heißt da, wo er Marxismus war – hat niemals einen passiven und rigiden Determinismus befolgt. Die Reformisten widerstehen der Revolution, während der revolutionären Agitation nach dem Krieg, mit Argumenten des rudimentärsten ökonomischen Determinismus. Argumente die, im Hintergrund, sich als die der konservativen Bourgeoisie herausstellen, und die den absoluten bürgerlichen und nicht sozialistischen Charakter dieses Determinismus denunzieren. Für die Mehrheit seiner Kritiker erscheint die russische Revolution als rationaler, als romantischer, antihistorischer Versuch, einer der fanatischen Utopisten. Die Reformisten allen Kalibers, missbilligen, an erster Stelle, den Revolutionären die Tendenz, die Geschichte zu forcieren, die Taktik der Parteien der III. Internationale als „blanquistisch” und „putschistisch” bezeichnend.

Marx konnte nichts anderes fassen oder vorschlagen als eine realistische Politik und, deshalb, die extreme Demonstration, dass um so voller und kräftiger der gleiche Prozess der kapitalistischen Ökonomie erfüllt wurde, umso direkter er zum Sozialismus führt; weil verstanden wurde, eine vorherige Bedingung einer neuen Ordnung, eine geistige und intellektuelle Schulung des Proletariats durch den Klassenkampf zu realisieren benötigte. Vor Marx kam die moderne Welt an einem Moment an, zu dem keine politische Doktrin und soziale Macht in dem Widerspruch zu Geschichte und Wissenschaft auftreten konnte. Die Dekadenz der Religionen hat einen Ursprung, sehr sichtbar in seiner zunehmenden Abkehr von der geschichtlichen und wissenschaftlichen Erfahrung. Und es ist absurd ein politisches Konzept zu verlangen – das herausragend modern in allen seinen Elementen, wie der Sozialismus – gleichgültig für diese Art der Überlegungen ist. Alle zeitgenössischen politischen Bewegungen, angefangen von den reaktionärsten, charakterisieren sich, wie Benda26 in seinem Der Verrat der Intellektuellen für sein Beharren auf der Anmaßung, eine strikte Korrespondenz mit dem Lauf der Geschichte zu haben. Für die Reaktionäre der L`Action Française27, sprichwörtlich positivistischer als jeder Revolutionär, ist die ganze Periode, die die liberale Revolution begann monströs romantisch und antihistorisch. Die Begrenzungen und Funktionen des marxistischen Determinismus wurden seit langem festgelegt. Kritiker die der ganzen Frage der Partei fern sind, wie Adriano Tilgher28, unterschreiben die folgende Interpretation: „Die sozialistische Taktik, um erfolgreich zu sein, muss gut ausgeführt werden, muss die geschichtliche Situation in Betracht ziehen in der sie arbeiten muss und in der, wo sie noch unreif ist für die Gründung des Sozialismus, sich gut dafür rüsten, es durchzuziehen; aber, auf der anderen Seite, nicht auf die Aktion der Vorfälle, auf seinen Weg eingreifen, dazu tendieren immer mehr am sozialistischen Denken zu orientieren, die Handelsweisen reifen für die endgültige Umwandlung. Die marxistische Taktik ist daher, Dynamik und Dialektik selbst wie die Doktrin von Marx: der sozialistische Wille der nicht in der Leere agitiert, die vorliegende Situation nicht ignoriert, die keine Illusionen der Veränderung mit Aufruf des guten Herzens der Menschen hat, sondern fest der historischen Realität anhaftet, aber nicht passiv an ihr resigniert; sie reagieren gegen sie mit mehr Energie, in diesem Sinne das Proletariat ökonomisch und geistig stärken, ihm den Konflikt mit der Bourgeoisie bewusst machen, mit dem Eintreffen des Maximum der Erbitterung und der Bourgeoisie im Extrem der Kräfte der Kapitalherrschaft, wandelt ein Hindernis für die Produktivkräfte um, kann zum Vorteil von allen niederreißen und ersetzen, für das sozialistische Regime”. (La Crisi Mondiale e Saggi critice di Marxismo e Socialismo).

Der volontaristische Charakter des Sozialismus ist in Wahrheit nicht weniger evident, obwohl weniger von der Kritik gehört, als sein deterministischer Grund. Um es auszuwerten reicht es, trotz allem, der Entwicklung der proletarischen Bewegung zu folgen, vom Wirken von Marx und Engels in London, den Ursprüngen der I. Internationale, bis zum aktuellen Moment, dominiert von dem ersten Experiment eines sozialistischen Staates: der UdSSR. In diesem Prozess, jedes reden, jedes handeln des Marxismus hat einen Akzent des Glaubens, des Willens, der heroischen und schaffenden Überzeugung, deren Impuls sinnlos in einem mittelmäßigen und passiven deterministischen Gedanken zu suchen wäre.

 

VIII Der heroische und schaffende Sinn des Sozialismus

Alle diejenigen, die wie Henri de Man einen ethischen Sozialismus vorhersagen und ankündigen, basierend auf den humanitären Prinzipien, statt auf irgendeine Weise zur Erhöhung der Moral des Proletariats beizutragen, arbeiten unbewusst, paradoxerweise, gegen seine Bestätigung als eine schaffende und heroische Kraft, was gegen seine zivilisatorische Rolle ist. Für den Weg des „moralischen“ Sozialismus, und seine antimaterialistischen Plattitüden kann man nicht anders, als in den sterilsten und weinerlichsten humanistischen Romantizismus zu verfallen, in das dekadenteste Apologetentum der „Paria29” in das sentimentalste und unpassendste Plagiat der evangelischen Phrase der „Armen im Geiste”. Und das ist das gleiche wie den Sozialismus zurückzusetzen auf sein romantisches, utopistisches Stadium, in welchem seine Forderungen sich nährten, in großem Teil, von dem Gefühl und der Abschweifung dieser Aristokratie, die, nachdem sie unterhalten wurde, idyllisch und aus dem achtzehnten Jahrhundert, sich selbst als Schäfer und Pastoren verkleiden und zur Enzyklopädie und dem Liberalismus werden, mit bizarrer und pferdeähnlicher Führung eine Revolution der Hemdlosen und Heloten rufen. Einer Folgschaft unter einer Tendenz der Unterschwelligkeit des Gefühls, ist diese Art von Sozialisten – die von außerordentlichen und bewundernswerten Geistern mit großer Höhe überragt werden – sammeln im Strom die sentimentalen Klischees und die demagogischen Bilder des Heldengedichtes der Sansculotten30 auf, mit dem Ziel auf der Welt ein rousseausches paradiesisches Zeitalter zu errichten. Aber, wie wir seit langem wissen, ist dieses absolut nicht der Weg der sozialistischen Revolution. Marx erdachte und lehrte, dass man damit beginnen muss, die Fatalität der kapitalistischen Etappe zu verstehen und, vor allem, seinen Wert. Der Sozialismus, nach Marx, tauchte wie das Konzept einer neuen Klasse auf, wie eine Doktrin und eine Bewegung die nichts gemeinsam hat mit dem Romantizismus derjenigen, die ihn ablehnen, die zu verabscheuen sind, das kapitalistische Werk. Das Proletariat folgt der Bourgeoisie in den zivilisatorischen Unternehmungen. Und diese Mission annehmend, seiner Verantwortung und Kapazität bewusst – in revolutionärer Praxis und in der kapitalistischen Ausbeutung angeeignet – als die Bourgeoisie, ihre Bestimmung erfüllend, aufhörte eine Kraft des Fortschritts und Kultur zu sein.

Deshalb hat die Arbeit von Marx einen bestimmten Hauch von Bewunderung des kapitalistischen Werks und das Kapital, während es die Grundlage für eine sozialistische Wissenschaft legt, ist die beste Leseart des Heldenepos des Kapitalismus (etwas, was Henri de Mans Beobachtung äußerlich nicht entgeht, aber in seinem tieferen Sinn schon).

Der ethische, pseudochristliche, humanitäre Sozialismus kann einer mehr oder weniger lyrischen und harmlosen Übung einer müden und dekadenten Bourgeoisie dienen, aber nicht die Theorie einer Klasse die ihre Volljährigkeit erreicht hat, die die höchsten Ziele der Kapitalistenklasse übertroffen hat. Dem Marxismus sind die mittelmäßigen altruistischen und philanthropischen Spekulationen vollkommen fremd und er ist gegen sie. Die Marxisten glauben nicht das die Unternehmen eine neue gesellschaftliche Ordnung schaffen, der kapitalistischen Ordnung überleben, von einer amorphen Masse der Armen und Unterdrückten angefangen, geleitet von den voraussehbaren Evangelien der Güter. Die revolutionäre Energie des Sozialismus ernährt sich nicht von Mitleid und Neid. Im Klassenkampf, in dem alle Elemente des erhabenen und heroischen Aufstiegs liegen, kann das Proletariat eine „Moral der Produzierenden” erheben, weit entfernt und verschieden von der „Moral der Sklaven”, die versuchen ihre kostenlosen Moralprofessoren mit Schulden auszustatten, schockiert von ihrem Materialismus. Eine neue Zivilisation kann nicht aus der tristen und erniedrigenden Welt der Heloten und der Elenden entstehen, ohne mehr zu Schreiben über das Helotentum und sein Elend. Das Proletariat tritt in die politische Geschichte nicht als etwas anderes als eine gesellschaftliche Klasse ein; im Augenblick in dem es seine Aufbauaufgabe herausfindet, mit den Elementen die sich durch die menschliche Kraft, moralisch und amoralisch, gerecht und ungerecht, in eine höhere gesellschaftliche Ordnung ergeben. Und zu dieser Kapazität ist es nicht durch ein Wunder gelangt. Es bekommt sie dadurch, dass es fest auf dem Gebiet der Ökonomie und der Produktion gefestigt ist. Seine Klassenmoral hängt von der Energie und dem Heldentum ab, mit dem es auf diesem Gebiet arbeitet und der Weite mit der es die bürgerliche Ökonomie kennenlernt und beherrscht.

De Man bemüht sich, zwischendurch, an dieser Wahrheit ab; aber im allgemeinen schützt er sich durch übernehmen. Er schreibt zum Beispiel: „das essentielle des Sozialismus ist der Kampf um ihn. Nach der Formel eines Vertreters der Deutschen Sozialistischen Jugend, ist das Objekt unserer Existenz nicht paradiesisch sondern Heldenhaft”. Aber es ist genau diese Konzeption die den Gedanken des belgischen Revisionismus inspiriert, der, einige Seiten vorher, gesteht: „Ich denke näher an der reformistischen Praxis als der extremistischen und schätze eine neue Abwasserleitung in einem Arbeiterviertel oder einen Blumengarten in einem Arbeiterhaus mehr als eine neue Theorie des Klassenkampfes”. De Man kritisiert, im ersten Teil seiner Arbeit, die Tendenz das Proletariat zu idealisieren wie die Bauernschaft idealisiert wird, der primitive und einfache Mensch, in der Epoche Rousseaus. Und das zeigt wie seine Spekulation und seine Praxis sich nur auf dem humanitären Sozialismus der Intellektuellen basiert.

Es gibt keine Zweifel dass dieser humanitäre Sozialismus nicht wenig propagiert wurde in den Arbeitermassen. Die Internationale, die Hymne der Revolution, richtet sich in ihrem ersten Vers an „die Armen der Welt”31, ein Satz der reinen evangelischen Erinnerung. Man erinnert sich, dass der Autor dieser Verse ein französischer Poet des Volkes ist, der reinen Herkunft aus Boheme und Romantik, eine Ader die in seiner Inspiration klar hervortritt. Die Arbeit des anderen Franzosen, dem großen Henri Barbusse32, zeigt sich geprägt vom gleichen Gefühl der Idealisierung der Massen, der zeitlosen Masse, unendlich, ohne das unterdrückende Gewicht der Glorie der Helden und die Ballen der Felder. Massenskulpturen. Aber die Massen sind nicht das moderne Proletariat; und sein allgemeingültiger Anspruch ist nicht der revolutionäre und sozialistische Anspruch.

Der außerordentliche Meilenstein von Marx besteht darin, in diesem Sinne, das Proletariat entdeckt zu haben. Wie Adriano Tilher geschrieben hat, „vor der Geschichte, taucht Marx als der Entdecker und Verkünder, fast als der Erfinder des Proletariats auf; er hat effektiv nichts gemacht als der proletarischen Bewegung das Bewusstsein seiner Natur zu geben, seine Legitimität, und historische Notwendigkeit, durch das ihm inneren Gesetz, dem endgültigen Ende auf das es zugeht, und hat also im Proletariat das Bewusstsein wiederbelebt, das zuvor fehlte; ohne sein Schaffen, können wir sagen, die Grundlage, und nach der Grundlage, die Realität des Proletariats als Klasse essentiell antithetisch zur Bourgeoisie, wahre und einzige Träger des revolutionären Geistes in der modernen industriellen Gesellschaft”.

 

 

Mao Tse-tung
„Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen?”
Mai 1963

Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen? Fallen sie vom Himmel? Nein. Sind sie dem eigenen Gehirn angeboren? Nein. Die richtigen Ideen der Menschen können nur aus der gesellschaftlichen Praxis herrühren, nur aus dem Produktionskampf, dem Klassenkampf und dem wissenschaftlichen Experiment – diesen drei Arten der gesellschaftlichen Praxis. Das gesellschaftliche Sein der Menschen bestimmt ihr Denken. Sobald die richtigen Ideen, die die fortschrittliche Klasse repräsentieren, von den Massen beherrscht werden, werden sie zur materiellen Gewalt, welche die Gesellschaft und die Welt umgestaltet. In ihrer gesellschaftlichen Praxis führen die Menschen verschiedenerlei Kämpfe durch, sammeln sie reiche Erfahrungen, solche von Erfolgen und solche von Mißerfolgen. Die unzähligen Erscheinungen der objektiven Außenwelt finden mittels der fünf Sinnesorgane – Organe des Gesichts-, Gehör-, Geruchs-, Geschmacks-, und Tastsinnes – ihre Widerspiegelung im menschlichen Gehirn, und das ist zunächst eine sinnliche Erkenntnis. Hat sich das Material angehäuft, so tritt ein Sprung ein, und die sinnliche Erkenntnis verwandelt sich in eine rationale Erkenntnis, d.h. in die Idee. Das ist ein Erkenntnisprozeß. Es ist die erste Etappe des Gesamtprozesses der Erkenntnis, nämlich die Etappe des Übergangs von der objektiven Materie zum subjektiven Bewußtsein, vom Sein zur Idee. Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht bewiesen, ob das Bewußtsein und die Ideen (einschließlich der Theorien, politischen Richtlinien, Pläne, Methoden) die Gesetze der objektiven Außenwelt richtig widergespiegelt haben, es kann noch nicht festgestellt werden, ob sie richtig sind. Darauf folgt eine zweite Etappe des Erkenntnisprozesses, nämlich die Etappe des Übergangs vom Bewußtsein zur Materie, von der Idee zum Sein, wo man die in der ersten Etappe gewonnenen Erkenntnisse auf die gesellschaftliche Praxis anwendet, um zu sehen, ob diese Theorien, politischen Richtlinien, Pläne, Methoden usw. zu dem gewünschten Erfolg führen können. Allgemein gesagt, ist das richtig, was Erfolg bringt, und falsch. Was mißlingt; das trifft besonders auf den Kampf der Menschheit mit der Natur zu. Im gesellschaftlichen Kampf haben die Kräfte , die die fortschrittliche Klasse repräsentieren, manchmal Mißerfolg, und zwar nicht etwa, weil ihre Ideen unrichtig wären, sondern weil sie, wenn man die im Kampf stehenden Kräfte miteinander vergleicht, zeitweilig noch nicht so stark sind, wie die reaktionären Kräfte; daher erleiden die vorläufig Niederlagen, doch werden sie früher oder später siegen. Mit der Überprüfung der menschlichen Erkenntnis durch die Praxis tritt wiederum ein Sprung ein. Dieser ist von weit größerer Bedeutung als der frühere Sprung. Denn nur der zweite Sprung kann beweisen, daß der erste Sprung in der Erkenntnis, d.h. die Ideen, Theorien, politischen Richtlinien, Pläne; Methoden usw., auf die man im Prozeß der Widerspiegelung der objektiven Außenwelt gekommen ist, richtig oder falsch war; es gibt keine andere Methode, die Wahrheit nachzuprüfen. Das Proletariat verfolgt mit der Erkenntnis der Welt einzig und allein den Zweck, die Welt umzugestalten; es hat dabei kein anderes Ziel. Zu einer richtigen Erkenntnis gelangt man oft erst nach einer vielfachen Wiederholung der Übergänge von der Materie zum Bewußtsein und vom Bewußtsein zur Materie, das heißt von der Praxis zur Erkenntnis und von der Erkenntnis zur Praxis. Das ist die Erkenntnistheorie des Marxismus, die Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus. Unter unseren Genossen gibt es viele, die dieses erkenntnistheoretische Prinzip noch nicht verstehen. Fragt man sie, woher ihre Gedanken und Meinungen, ihre politischen Richtlinien, ihre Methoden, Pläne und Schlußfolgerungen, ihre endlos dahinplätschernden Reden und ellenlangen Artikel kommen, tun die ganz erstaunt und finden keine Antwort. Für sie ist auch eine solche, im alltäglichen Leben oft zu beobachtende Erscheinung des Sprungs, wie sich die Materie in Geist und der Geist sich in Materie verwandeln kann etwas Unbegreifliches. Es ist daher notwendig, unsere Genossen in der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus zu schulen, damit die ihr Denken richtig ausrichten, verdrehen, Untersuchungen und Forschungen vorzunehmen und Erfahrungen zusammenzufassen, und Schwierigkeiten überwinden, weniger Fehler begehen, ihre Arbeit gut verrichten sowie im Kampf alle Kräfte einsetzen, um ein großes und starkes sozialistisches Land aufzubauen und die unterdrückten und ausgebeuteten breiten Volksmassen der ganzen Welt zu unterstützen, also die uns obliegende große internationalistische Pflicht zu erfüllen.

September 2017

Redaktion Klassenstandpunkt

1 „La Philosophie Positive. Revue“ – Zeitschrift, die von 1867 bis 1883 in Paris erschien. In Nr.3 vom November/Dezember 1868 veröffentlichte sie eine kurze Rezension über den ersten Band des „Kapitals“ aus der Feder von De Roberty, einem Anhänger des positivistischen Philosophen Auguste Comte.

2 „Durch dieses Werk reiht sich Herr Marx unter die bedeutendsten analytischen Denker ein.“

3 I. I. Kaufman

4 Marx meint hier die deutschen bürgerlichen Philosophen Büchner, Lange, Dühring, Fechner und andere.

5 W.I.Lenin meint die „Thesen über Feuerbach” von Marx (1845) und „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie” (1888) sowie die „Einleitung zur englischen Ausgabe” (1892) der Arbeit „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft” von Engels in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S.5-7; Bd. 21, Berlin 1962, S. 259-307; Bd. 22, Berlin 1963, S. 287-311.

6 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 5 ; Bd. 21, Berlin 1962, S. 276; Bd. 22, Berlin 1963, S. 297.

7 G. E. Schulze, „Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie“, 1792, S. 253

8 Lunatscharski schreibt: „ . . . die wundervolle Seite der religiösen Ökonomik. Ich sage das, auch anf die Gefahr hin, bei dem nicht religiösen Leser, ein Lächeln hervorzurufen.“ So gut Ihre Absichten auch sein mögen, Genosse Lunatscharski, Ihr Liebäugeln mit der Religion ruft nicht ein Lächeln, sondern Ekel hervor.

9 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 106.

10 Mach in der „Mechanik“: „Die religiösen Ansichten bleiben jedes Menschen eigenste Privatsache, solange er mit denselben nicht aufdringlich wird und sie nicht auf Dinge überträgt, die vor ein anderes Forum gehören.“ (S. 434 der franz. Übersetzung [S. 494].)

11„Subjektive Methode in der Soziologie“ – unwissenschaftliches idealistisches Herangehen an den historischen Prozeß, das die objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung leugnet und diese auf die willkürliche Tätigkeit „hervorragender Persönlichkeiten“ zurückführt. In den dreißiger bis vierziger Jahren des ,19. Jahrhunderts zählten zu den Anhängern der subjektiven Schule in der Soziologie die Junghegelianer B. Bauer, D. F. Strauß, M. Stirner und andere,- sie erklärten das Volk zu einer „unkritischen Masse“, die den „kritisch denkenden Persönlichkeiten“ blindlings folgt. Marx und Engels unterzogen die Anschauungen der Junghegelianer in der „Heiligen Familie“, in der „Deutschen Ideologie“ und anderen Werken einer gründlichen und allseitigen Kritik. In Rußland traten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Repräsentanten der subjektiven Methode in der Soziologie die liberalen Volkstümler (P. L. Lawrow, N. K. Michailowski u. a.) auf, die den objektiven Charakter der Entwicklungsgesetze der Gesellschaft leugneten und die Geschichte auf die Tätigkeit einzelner Helden, „hervorragender Persönlichkeiten“, zurückführten. Die Subjektivisten „behaupteten nämlich“, schrieb W.I.Lenin 1894, „daß man die sozialen Erscheinungen, weil sie so kompliziert und mannigfaltig sind, nicht untersuchen könne, ohne die wichtigen von den unwichtigen abgesondert zu haben, für eine derartige Sonderung aber sei der Standpunkt der ,kritisch denkenden‘ und ,sittlich entwickelten‘ Persönlichkeit notwendige Voraussetzung“ (Werke, Bd. 1, S. 425). Die subjektive Methode wird weitgehend von der reaktionären bürgerlichen Philosophie, Soziologie und Geschichte ausgenutzt, um die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zu verfälschen und den Kampf gegen die marxistisch-leninistische Theorie zu führen.
Der Marxismus-Leninismus deckte die völlige Haltlosigkeit der subjektividealistischen Richtung in der Soziologie auf und schuf eine wirklich wissenschaftliche, in sich geschlossene Lehre von der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, von der entscheidenden Rolle der Volksmassen in der Geschichte und der Bedeutung des Handelns der einzelnen Persönlichkeit.

12„Archiv für systematische Philosophie“, 1898, II, Bd. 4, S. 63, Aufsatz über Machs philosophische Ansichten.

13Erich Becher, „The Philosophical Views of Ernst Mach“ [Die philosophischen Ansichten Ernst Machs] in „The Philosophical Review“, vol. XIV, 5, 1905, pp. 536, 546, 547, 548

14£. Ludka, „Das Erkenntnisproblem und Machs .Analyse der Empfindungen‘ “ in „Kantstudien“, Bd. VIII, 1903, S. 400.

15„Systematische Philosophie“, Leipzig 1907, S. 131.

16„Grundriß der Geschichte der Philosophie“, Bd. 4, 9. Auflage, Berlin 1903, S. 250.

17Das Wort „Maximalisten“ steht hier für Bolschewiki und hat in diesem Falle aus der Sicht Gramscis eine positive Bedeutung.

18Gemeint ist der erste Weltkrieg 1914-1918. Gramsci spricht von den drei Jahren seit Beginn bis zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution in Rußland.

19Auslassung im Text.

20Gemeint ist die russische Februarrevolution von 1917.

21Die vorliegenden Auszüge erscheinen hier erstmals in deutscher Übersetzung

22Benedetto Croce, 25. 2. 1866 – 20. 11. 1952

23Giovanni Gentile, 30. 5. 1875 – 15. 4. 1944

24Hendrik de Man, 17. 11. 1885 – 20. 6. 1953 , Präsident der Belgischen Arbeiterpartei 1938 – 1940, Kollaborateur nach der Besatzung Belgiens durch den deutschen Faschismus.

25Miguel de Unamuno y Jugo, 29. 9. 1864 – 31. 12. 1936, spanischer Philosoph

26Julien Benda, 26. 12. 1867 – 7. 6. 1956, französischer Intelektueller

27Französische faschistische Gruppierung

28Adriano Tilgher, 8. 1. 1887 – 3. 11. 1941

29Ausgestoßene

30Sansculotten nannten sich die französischen Revolutionäre, weil sie keine Kniebundhosen trugen. Diese wurden hauptsächlich von den Adligen getragen.

31„Arriba los pobres del mundo

En pie los esclavos sin pan

y gritemos todos unidos

¡Viva la Internacional!“

Anmerkung des Übersetzers. Die Hymne des internationalen Proletariats und der internationalen proletarischen Bewegung ist die Internationale. Trotzdem existieren unterschiedliche Versionen dieser Hymne. Nicht nur der unterschiedlichen Sprachen sogar innerhalb der gleichen Sprache. So die spanische und lateinamerikanische Version.

Aber auch unter den englischen, deutschen und französischen Versionen gibt es deutliche Unterschiede. Wo z.b. hier Mariategui über „die Armen der Welt” spricht heißt es in der deutschen Version die „Verdammten dieser Erde”.

32Henri Barbusse, 17. 5. 1873 – 30. 8. 1935


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