Rote Post #65
Posted: August 12th, 2023 | Author: rotepresse | Filed under: Rote Post | Kommentare deaktiviert für Rote Post #65Die gesamte Ausgabe als Download
Nordrhein-Westfalen
Wahlen in der Türkei und die Heuchelei der Bundesregierung
In der Türkei wurde im Mai gewählt. Dabei wurde neben der Zusammensetzung des Parlaments auch direkt darüber entschieden, wer künftig in der Türkei das Amt des Präsidenten einnehmen wird. Mit 49,5 Prozent der Stimmen bei der ursprünglichen Wahl am 14. Mai für den bis dahin amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) und 44,9 Prozent für den Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP), konnte kein Kandidat eine klare Mehrheit für sich gewinnen. Am 28. Mai ging es deshalb in eine Stichwahl, welche Erdoğan mit 52,14 Prozent schlussendlich für sich entscheiden konnte. Bei den Wahlen konnten allerdings nicht nur türkische Staatsbürger wählen, die in der Türkei wohnhaft sind, sondern auch für türkische Migranten in Deutschland gab es die Möglichkeit, wählen zu gehen. In diesem Zusammenhang spielte vor allem Nordrhein-Westfalen eine wichtige Rolle.
In Deutschland sind rund 1,5 Millionen türkische Staatsbürger wahlberechtigt, alleine ein Drittel davon lebt in NRW. Gewählt werden konnte, mit Ausnahme von Kassel, nur in den 16 Städten, die ein türkisches General- oder Honorarkonsulaten besitzen – davon sind fünf allein in NRW ansässig. Die Wahlbeteiligung lag im ersten Wahlgang in Deutschland mit knapp 49 Prozent unter dem Auslandsdurchschnitt von etwa 54 Prozent. Auffällig war, dass Essen bundesweit sowohl die höchste Wahlbeteiligung hatte, als auch mit 76,6 Prozent den höchsten Anteil an Erdoğan-Stimmen im ersten Wahldurchlauf besaß. Die einzige Stadt in Deutschland, bei der drei von vier Stimmen an Erdoğan gingen.
Um eine aufgeheizte Stimmung hierzulande wie bei vorherigen Wahlen (bzw. zwischen Erdoğan-Anhängern und -Gegnern direkt) nicht weiter anzufachen, hat die deutsche Regierung in den letzten Jahren den türkischen Wahlkampf in der BRD untersagt. Besuche von Regierungsmitgliedern, wie beispielsweise der des türkischen Ministerpräsidenten in Oberhausen Anfang des Jahres, welcher parteiübergreifend von der Regierung denunziert wurde, gelten entsprechend als Staatsbesuche, die demnach nicht dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit unterliegen und müssen ausdrücklich von der deutschen Regierung vorher gestattet werden. Auch Wahlplakate dürfen, wenn es keine Sonderreglungen gibt, nicht aufgehangen werden. Aber das ist nur die eine Seite, denn auch ohne den offenen und „offiziellen“ Wahlkampf, findet er trotzdem seinen Weg zu den türkischstämmigen Migranten, die in Deutschland leben. Beispielsweise über Vereine wie die DITIB.
Die DITIB, kurz für „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“, ist der größte islamische Religionsverein in Deutschland und steht unter der direkten Kontrolle und Aufsicht des türkischen Präsidiums für religiöse Angelegenheiten, eine Behörde, die wiederum direkt dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan persönlich unterstellt ist. Das bedeutetet, dass auch wenn in anderen türkischen Vereinen und Moscheen in Deutschland sicherlich auch politische Arbeit von oppositionellen Parteien gemacht wird, Erdoğan und seine Partei eine Monopolstellung haben, um über die DITIB den Wahlkampf in der BRD zu machen. Schließlich handelt es sich bei den Imamen in den über 900 DITIB-Moscheen in Deutschland um in der Türkei ausgebildete und bezahlte Staatsangestellte. Wie groß die Einflussnahme DITIBs auf den Wahlkampf in Deutschland ist, lassen auch Berichte erkennen, dass kurz vor den diesjährigen Wahlen in den DITIB-Moscheen Briefe von Erdoğan an Moschee-Besucher verteilt und sogar Busse angemietet wurden, um diese von den Moscheen direkt zu den Wahlstellen zu fahren. Diese Form der Einflussnahme ist dabei auch keine neue Entwicklung. So wurde im Jahr 2018 öffentlich, dass in DITIB-Moscheen, teilweise unter Mitwirkung von Mitgliedern des türkischen Generalkonsulats, für den Sieg der türkischen Armee im Angriffskrieg gegen die Kurden in Nordostsyrien gebetet wurde.
Daneben, dass die von der Bundesregierung verabschiedete Gesetzgebung also besonders in die Hände der bestehenden türkischen AKP-Regierung um Erdoğan spielt, gibt es – trotz immer mal wieder öffentlich gemachter Kritik dieses oder jenes Politikers oder aus der bürgerlichen Presse – auch sonst eine intensive Zusammenarbeit mit der DITIB. Die DITIB ist in Deutschland ein gemeinnütziger Verein mit jahrelanger Finanzierung durch Fördermittel der Bundesregierung. In NRW gestaltet die DITIB seit 2021 sogar den islamischen Religionsunterricht mit, weil sie einen festen Platz in der zuständigen Kommission haben, welche vom Schulministerium ins Leben gerufen wurde. In Wuppertal wurde erst vor kurzem – gegen den Widerstand von Anwohnern, politischen Gruppierungen und türkischen und kurdischen Migranten – das Areal vom Autonomen Zentrum an der Gathe, bewohnte Wohngebäude, umliegende Shisha-Cafés sowie eine Autowerkstatt an die DITIB verkauft, damit diese dort ein neues, riesiges Gemeindezentrum errichten kann, welches nur mit gewaltsamer Räumung durchzusetzen sein wird. Mit der DITIB hat die Stadt jemanden gefunden, der bereit ist, sich als Buhmann für die Räumung und den Abriss zu präsentieren. So profitieren am Ende beide davon, dass ein Teil der armen und rebellischen Menschen in dem Viertel durch ein Gebäudekomplex des türkischen Staates in Deutschland ersetzt wird.
Natürlich spielt auf diese Art die Aktivität des türkischen Staates und der DITIB als Teil von ihm auch einen gewisse Rolle, wenn es darum geht, die Lage in den Arbeiterstadtteilen zu kontrollieren und einen Teil der Bewohner mit reaktionärer Propaganda zu verwirren. Zwar führt auch das innerhalb der deutschen Bourgeoisie immer wieder zu größeren Widersprüchen im Streit darum, dass doch die eigene deutsche Propaganda in den Köpfen der Menschen verbreitet werden sollte und nicht die eines anderen Staates. Allerdings ist es dem deutschen Imperialismus am Ende doch wohl lieber, wenn die Menschen den reaktionären Parolen der DITIB zuhören, anstelle mit fortschrittlichem Gedankengut in Kontakt zu kommen. Dazu kommt, dass bei allem Gerede über Erdoğan von den Parteien und der Presse in der BRD, es dem deutschen Imperialismus herzlich egal ist, ob jetzt diese oder jene Person an der Regierungsspitze der Türkei steht. Der deutsche Imperialismus unterstützt jenen in der Türkei, der dort die Interesse des deutschen Imperialismus bestmöglich wahrt, und hat dabei auch einen Blick nach Deutschland selbst, in dem er die politische Situation hierzulande ruhig haben möchte. In einem Moment mag dies Erdoğan sein, im nächsten ist es jemand anderes.
Heute reden zwar viele über Erdoğan und denunzieren ihn, in der Realität lassen sie ihn aber machen, fördern seine Vereine in Deutschland, gestatten seinen Einfluss und Lobbyismus auf die aus der Türkei stämmigen Menschen. In diesem Fall ist es für uns wichtig, eine klare Position für die Arbeiterklasse zu beziehen und der Fallstricke der bürgerlichen Hetzpropaganda aus dem Weg zu gehen. Das Problem sind nicht die Muslime oder das öffentliche Leben von Türken, Kurden und anderen Migranten in Deutschland. Es sind die Interessen des deutschen Imperialismus, die es erlauben, dass der alte türkische Staat hier seine reaktionäre Arbeit machen kann. Ob mit oder ohne Erdoğan.